Donnerstag, 30. Juli 2015

Teil II: ME oder CFS – das ist hier die Frage!

Nachdem ich im ersten Blogeintrag erläutert habe, weshalb ME-Aktivisten auf der Bezeichnung Myalgische Enzephalomyelitis oder kurz ME bestehen, gehe ich heute der Frage nach, ob es sich bei ME und CFS auch wirklich um die gleiche Erkrankung handelt.

Eine Krankheit, deren Ursache unbekannt ist und die keine allgemein anerkannten Biomarker hat, mit denen die Krankheit zweifelsfrei feststellbar wäre, benötigt eine scharf umrissene Krankheitsdefinition, damit die Diagnose überhaupt gestellt werden kann. Es gibt mehrere ME-Krankheitsdefinitionen (z.B. die von Melvin Ramsay, 1986, und die International Consensus Criteria von Bruce M. Carruthers et al., 2011) und mehrere CFS-Krankheitsdefinitionen (z.B. die von Gary Holmes et al., 1988, und Keiji Fukuda et al., 1994). Darüber hinaus gibt es auch noch eine Krankheitsdefinition, die den Terminus ME/CFS benutzt, nämlich die Kanadische Definition von 2003 (Bruce M. Carruthers et al.).

Sind diese Krankheitsdefinitionen für ME und CFS denn nun in etwa gleich oder unterscheiden sie sich voneinander? Und wenn ja, inwiefern unterscheiden sie sich? Und betreffen diese Unterschiede weniger wichtige Aspekte der Krankheit oder betreffen sie entscheidende Aspekte?




Betrachten wir doch einfach mal die jeweilige Beschreibung des Kardinalsymptoms der Erkrankung, also die Definition desjenigen Symptoms, das für die jeweilige Krankheitsdefinition gänzlich unverzichtbar ist.

Der Autor der allerersten Krankheitsdefinition überhaupt, Melvin Ramsay, legte 1986 als Kardinalsymptom der ME die rasch einsetzende Muskelerschöpfbarkeit fest, die schon nach minimaler körperlicher Anstrengung auftreten kann. Die Muskulatur brauche nach einer solchen Belastung zwischen drei und fünf Tagen oder auch länger zur Regeneration. Ohne dieses Symptom könne eine ME nicht diagnostiziert werden, schrieb Ramsay damals.

In der ME-Definition von 2011, den Internationalen Konsenskriterien (ICC), wird die PENE (post-exertional neuro immune exhaustion), die neuroimmune Entkräftung nach Belastung, als Kardinalsymptom der ME genannt. PENE bezeichnet das pathologische Unvermögen, ausreichend Energie nach Bedarf zu produzieren. Die Bezeichnung weist darauf hin, dass die maßgebenden Symptome nach nur geringer körperlicher und/oder geistiger Anstrengung, z.B. nach Alltagsverrichtungen, primär neuroimmunologischer Natur sind. In den ICC wird zwar nicht ausdrücklich auf die pathologische Muskelerschöpfbarkeit hingewiesen, doch die Verknüpfung von ausgeprägter und rascher körperlicher Erschöpfbarkeit nach geringer körperlicher Aktivität verbunden mit einer verlängerten Regenerationszeit verweisen auf dasselbe Krankheitsbild wie in der Definition von Melvin Ramsay beschrieben.




Kommen wir zu den beiden genannten CFS-Definitionen. Das Hauptkriterium der Holmes-Definition von 1988 ist der neue Beginn einer schubförmigen, schwächenden Fatigue (Müdigkeit oder Erschöpfung), welche die tägliche Aktivität um mindestens 50% reduziert und die sich auch durch Bettruhe nicht bessert. Doch die Fatigue wird in dieser Definition nicht als Folge von bereits geringfügiger physischer Belastung dargestellt.

Auch bei der CFS-Definition von Fukuda ist das Hauptkriterium die Fatigue und auch hier fehlt die zwingende Verknüpfung von geringer körperlicher Belastung mit dem Auftreten von vermehrter Fatigue.

Spätestens seit der Fukuda-Definition klebt das Fatigue-Etikett jedoch unlösbar fest sowohl an den CFS- als auch an den ME-Patienten, obwohl Fatigue in den ME-Krankheitsdefinitionen nicht als Symptom der chronischen Phase der Erkrankung auftaucht und überhaupt auch gar kein zwingend auftretendes Krankheitssymptom der ME ist. Müdigkeit kann bei einigen ME-Patienten zeitweise, besonders in der akuten Phase zu Beginn der Erkrankung ein Begleitsymptom sein, doch es leiden keineswegs alle ME-Patienten unter Müdigkeit. Und ebenso wie Krebspatienten oder Multiple-Sklerose-Patienten phasenweise unter Fatigue leiden können, können auch ME-Patienten phasenweise darunter leiden, müssen es aber nicht.




Ein unbedingt erforderliches Symptom zur Diagnosestellung der ME hingegen ist jedoch die PENE, die neuroimmune Entkräftung nach Belastung. Im Gegensatz zur Fatigue ist die PENE auch kein rein subjektives Gefühl, sondern sie geht mit objektiv messbaren biomedizinischen Anomalien einher. PENE ist nachweisbar und kann bislang am besten mit einem zweitägigen kardiopulmonalen Exercise-Test oder mit einem Genexpressionstest nach einmaliger Belastung objektiviert werden.

Während Fatigue also ein medizinisch ungeklärtes Phänomen darstellt, ist die PENE ein medizinisch erklärbares biologisches Alarmsignal des Körpers, ausgelöst durch objektivierbare organische Krankheitsprozesse.

Offensichtlich sind ME und CFS also zwei verschiedene Erkrankungen, denn das Kardinalsymptom der ME ist laut Krankheitsdefinition eine pathologische Muskelerschöpfbarkeit mit der Folge einer neuroimmunen Entkräftung nach bereits geringer Aktivität, wohingegen das Kardinalsymptom von CFS laut Krankheitsdefinition Fatigue ist, also schlicht Müdigkeit oder Erschöpfung, die nicht zwingend etwa eine Folge vorangegangener Aktivität sein muss, sondern den Erkrankten anscheinend auch aus heiterem Himmel befallen kann.

Wenn sich Krankheitsdefinitionen aber schon bei der Beschreibung des Kardinalsymptoms fundamental voneinander unterscheiden, so können sie nicht ein und dieselbe Krankheit beschreiben – auch wenn die Autoren der CFS-Definitionen stets den Eindruck erwecken wollten, als existiere eine Krankheit namens ME nicht bzw. als handele es sich bei ME und CFS um dasselbe Krankheitsbild.




Die Schaffung des Hybrids CFS/ME ist denn auch auf die Bemühungen britischer Psychiater, der sogenannten Wessely School, zurückzuführen, die neurologische Krankheit ME mit der chronischen Fatigue Depressiver zu verschmelzen, um die ME-Kranken besser psychopathologisieren zu können und die neurologische Krankheit ME auszuradieren und ihre Umklassifizierung zu einer psychischen Erkrankung bei der WHO zu erwirken.

Die Wortschöpfung ME/CFS hingegen ist der hilflose und unglückliche Versuch engagierter Ärzte, Forscher und mancher Patientenfürsprecher, daran zu erinnern, dass die weltweit dominierende Bezeichnung CFS sich eigentlich ursprünglich auf die Krankheit ME bezieht. Doch wissenschaftlich korrekt ist diese Bezeichnung nicht, selbst wenn in den Kanadischen Konsenskriterien die Begriffe Myalgische Enzephalomyelitis und Chronic Fatigue Syndrom synonym gebraucht werden. Denn rein definitionsgemäß stellt ME, wie gezeigt, ein anderes Krankheitsbild dar als CFS.

Leider haben sich aber die von der Politik gewollten und favorisierten CFS-Krankheitsdefinitionen durchgesetzt. Deshalb diagnostizieren die meisten Ärzte eine ME-Erkrankung auch als ein CFS. Doch nur etwa 30-50% der CFS-Patienten erfüllen tatsächlich auch die Krankheitsdefinition einer ME. (Frank Twisk, 2014)

Ob man nun mutmaßlich ein CFS-Patient oder ein ME-Patient ist, hängt dabei u.a. ganz wesentlich davon ab, wie man auf körperliche Anstrengung reagiert. Dabei genügt es nicht, sich müde und/oder erschöpft zu fühlen, sondern für eine waschechte PENE, wie sie die ME-Diagnose verlangt, braucht man einen Strauß neuroimmunologischer Symptome, die sich nach Belastung verstärken oder auch wiederauftreten. Denn müde und erschöpft nach körperlicher Belastung fühlen sich auch Depressive mit einer chronischen Fatigue oder Menschen, die an anderen Krankheiten leiden, und selbstverständlich auch Gesunde. Doch Symptome wie Halsschmerzen, Lymphknotenschmerzen und –schwellungen, Muskelschmerzen, Muskelzuckungen und –krämpfe, Schüttelfrost, eine überwältigende Erschöpfung, eventuell eine Temperaturerhöhung, stark behindernde neurokognitive Beschwerden wie Ausfall des Kurzzeitgedächtnisses, verlangsamtes Denken, eine verwaschene Sprache, Informationsverarbeitungsschwierigkeiten, Desorientierung, Verwirrung, Wortfindungsschwierigkeiten, Licht-, Geräusch-, Lärm-, Geruchs-, Geschmacks- und Berührungsempfindlichkeit sowie viele weitere Symptome aus dem autonomen, urogenitalen und gastrointestinalen System stehen vor allem in ihrer Kombination einzigartig für eine PENE und haben mit dem Zustand einer „normalen“ Erschöpfung oder Ermüdung oder gar mit Antriebslosigkeit oder Motivationsschwierigkeiten nicht das Geringste gemeinsam.

Obwohl die Namen ME und CFS also zwei unterschiedliche Krankheitsbilder bezeichnen, stellt sich für viele sicherlich dennoch die Frage, ob es zwecks besserer Verständigung mit medizinischem Personal nicht vielleicht doch sinnvoll sein könnte, von CFS/ME oder ME/CFS oder auch gleich von einem „Chronischen Erschöpfungssyndrom“ oder sogar von einem „Chronischen Müdigkeitssyndrom“ zu sprechen. Vielleicht kann mein nächster Blogeintrag, in dem ich ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudern werde, zur Beantwortung dieser Frage beitragen ...


Mehr zum Thema und den Hintergründen hier.

Bildnachweise:

Hans Holbein d. J., Porträt von Nikolaus Kratzer, www.commons.wikimedia.org
Ernst Ludwig Kirchner, Frau in grüner Blusewww.commons.wikimedia.org
August Egg, The Travelling Companionswww.commons.wikimedia.org
Max Pechstein, Wegkreuzung im Waldwww.badv.bund.de

Katharina Voss, Copyright 2015

Sonntag, 26. Juli 2015

ME oder CFS – das ist hier die Frage!


Wie nennen Sie diese Krankheit, die im ICD-10 unter G93.3 im Kapitel „Neurologische Erkrankungen“ verschlüsselt ist? Myalgische Enzephalomyelitis oder Chronic Fatigue Syndrom, ME oder CFS? Oder „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ oder gar „Chronisches Müdigkeitssyndrom“?

Man mag einwenden, der Name tue nichts zur Sache, Hauptsache die Krankheit hat überhaupt einen Namen. Man könnte es als Haarspalterei abtun, wenn ME-Aktivisten auf der Bezeichnung „Myalgische Enzephalomyelitis“ bzw. ME bestehen.

Doch warum bestehen sie überhaupt auf der Bezeichnung?

Ein kurzer Ausflug in die Historie erhellt die Gründe für das Beharren auf diesem Namen. Zum ersten Mal registriert wurde diese Krankheit 1934 in Los Angeles, wo es unter den Mitarbeitern des L.A. County General Hospitals einen epidemischen Ausbruch mit 198 Betroffenen gab. Obwohl der von der NIH [1] nach Los Angeles geschickte Epidemiologe Alexander G. Gilliam in seinem Untersuchungsbericht festhielt, dass es sich bei diesem epidemischen Ausbruch nicht um eine der bekannten Formen der Poliomyelitis gehandelt habe, sondern um eine nie zuvor gesehene, der Medizin unbekannte Krankheit, nannte er sie „atypische Poliomyelitis“.



In der Folge wurden weltweit zahlreiche weitere epidemische Ausbrüche der gleichen Krankheit mit ganz unterschiedlichen behelfsmäßigen Krankheitsbezeichnungen registriert. Einer dieser Ausbrüche, 1955 unter den Mitarbeitern des Londoner „Royal Free Hospitals“, führte schließlich nach eingehender Auswertung des Krankheitsbildes zu der Bezeichnung „Benigne Myalgische Enzephalomyelitis“ – später meist nur noch „Myalgische Enzephalomyelitis“ genannt, da die Schwere der Erkrankung den Zusatz "benigne“ungerechtfertigt erscheinen ließ. Unter dieser Bezeichnung, die die Pathophysiologie der Krankheit am treffendsten beschreibt, und die durch Autopsieberichte und durch neuere Gehirnstudien gerechtfertigt erscheint, wurde die Krankheit 1969 von der WHO unter den neurologischen Krankheiten codiert.



Doch obwohl zwei britische Psychiater bereits ein Jahr später versuchten, den 15 Jahre zurückliegenden Ausbruch am „Royal Free Hospital“ zu einer Massenhysterie herunterzuspielen, war es bis zu der großen ME-Epidemie am Lake Tahoe im Jahre 1984 weitgehender medizinischer Konsens, die Krankheit als eine organische mit unbekanntem infektiösen Auslöser anzusehen. Erst die vergeblichen Versuche Stephen Straus`, des damaligen Leiters der Abteilung für Virologie der NIH, den epidemischen Ausbruch am Lake Tahoe sowie weitere landesweite Cluster mit dem Epstein-Barr-Virus als alleinigem Auslöser in Verbindung zu bringen, sorgten für die endgültige Vollziehung eines Paradigmenwechsels.



Denn Straus behauptete, frustriert von seinen Misserfolgen und wohl auch der Weisung seines Arbeitgebers, der NIH, folgend, bei dieser „neuen“ Krankheit handele es sich in Wirklichkeit um eine altbekannte, nämlich um die Neurasthenie, ein psychiatrisches Krankheitsbild, das der amerikanische Neurologe George Miller Beard 1869 erstmalig beschrieben hatte. Eine Verbindung zu den früheren ME-Epidemien wurde von vornherein unter den Teppich gekehrt bzw. gar nicht erst hergestellt, obwohl die globalen Ausbrüche gut dokumentiert waren und der NIH selbstverständlich bekannt gewesen sein dürften.

Unter völliger Missachtung der bereits vorhandenen und bekannten Forschungsliteratur zu ME einigten sich NIH und CDC [2] 1988 schließlich auf eine Syndromdefinition, in der die Bezeichnung ME und die früheren Epidemien mit keinem Wort Erwähnung fanden und die erstmals den Fokus auf die Fatigue, die Müdigkeit, legte. Der von dieser sogenannten Holmes-Definition vorgeschlagene bagatellisierende Name „Chronic Fatigue Syndrom“ sorgt bis heute für die Diskriminierung und Psychopathologisierung der Erkrankten.

Mit diesem Schachzug versuchten NIH und CDC, die Erinnerung an die infektiöse Krankheit ME in Vergessenheit geraten zu lassen. Es wurde eine neue Ära der Verleugnung eingeläutet, um die biomedizinische Erforschung der Krankheit zu stoppen und der psychiatrischen Forschung das Feld zu bereiten und rasanten Auftrieb zu geben.




Bemerkenswerterweise hatte man sich als namensgebendes Kardinalsymptom die Fatigue herausgepickt, die nicht einmal zwangsläufig ein Symptom der ME ist, geschweige denn das Kardinalsymptom. Viele ME-Patienten sind gar nicht müde, manche nur in der akuten Phase des ersten halben Jahres oder wenn sie tagelang unter schweren Schlafstörungen gelitten haben und kaum schlafen konnten oder wenn sie einen zusätzlichen Infekt durchmachen. In jedem Fall sind ME-Patienten nicht müder als andere Patienten mit schweren chronischen Krankheiten, wie z.B. Krebs oder Herzinsuffizienz.

Das Kardinalsymptom der ME ist ein ganz anderes, nämlich eine pathologische Muskelerschöpfbarkeit, die körperlichen Aktivitäten strenge Grenzen setzt und aufgrund der die Patienten nach geringer körperlicher Anstrengung eine Verschlimmerung aller ihrer neuroimmunologischen Symptome erleben.

Chronische Fatigue hingegen ist vor allem auch ein Begleitsymptom psychischer Erkrankungen, wie z.B. der Depression, aber auch einer Reihe weiterer Erkrankungen wie etwa Herzinsuffizienz, Morbus Addison usw.

Chronische Fatigue als das Kardinalsymptom dieser infektiösen Krankheit darzustellen, war also der unverfrorene – und leider gelungene – Versuch, Patientenkohorten zu vermischen, und zwar „echte“ ME-Patienten mit psychisch Erkrankten. Auf diese Weise ließ sich verschleiern, dass sich eine infektiöse und teilweise übertragbare Krankheit flächendeckend auszubreiten begann, die heute an die 17 Millionen Betroffene zählt, und deren „rätselhafter“ Charakter von den Verantwortlichen auch deshalb stets betont wurde, um Nichtzuständigkeit zu suggerieren und um von dem eklatanten Mangel an biomedizinischer Forschung abzulenken, die der wahre Grund für ihre weiterhin bestehende Rätselhaftigkeit ist.




Mal ganz abgesehen davon, dass Fatigue weder das Kardinalsymptom noch überhaupt ein Symptom der ME sein muss, sollte man sich aber auch fragen, welche Konsequenzen es für den Patienten haben kann, wenn seine Krankheit nach einem ihrer Symptome benannt wird und nicht nach ihrer Pathophysiologie.

Wenn man die bakterielle Infektionskrankheit Tuberkulose z.B. nach einem ihrer Symptome „Chronische Hüstelkrankheit“ genannt und auf ihre weitere biomedizinische Erforschung verzichtet hätte – so wie es weitgehend seit der Umbenennung von ME in “CFS“ der Fall war und noch ist –, würden die Tuberkulosepatienten noch heute mit einem Rezept für Hustensaft wieder nach Hause geschickt werden, wo sie möglicherweise weitere Personen anstecken und dann irgendwann elendiglich zugrunde gehen würden.

Genauso ergeht es aber den seit nunmehr drei Jahrzehnten so unzutreffend titulierten „CFS“-Patienten. Man schickt sie mit ein paar warmen, häufiger noch mit harschen Worten und vielen kontraindizierten Empfehlungen nach Hause und überlässt sie ansonsten nahezu gänzlich ihrem Verfall. Anders als unbehandelte Tuberkulosekranke versterben zwar nicht viele ME-Patienten unmittelbar an der Krankheit, ihr durchschnittliches Sterbealter liegt jedoch deutlich unter dem von Gesunden. Und nur allzu viele Langzeit-ME-Patienten sterben vorzeitig an den überhäufig auftretenden Folgekrankheiten, wie z.B. bestimmten Krebsarten oder Herzversagen. Viele weitere von eigener Hand – aus Verzweiflung oder weil sie ihre Schmerzen nicht mehr ertragen können.




Die von NIH und CDC 1988 via Definition und Namensgebung geschaffene Tatsachenbehauptung, dass es sich bei „CFS“ nicht um eine wirklich ernsthafte infektiöse Krankheit handelt, sondern nur um ein Syndrom mit dem Hauptsymptom Müdigkeit oder – je nach Interpretationswille – Erschöpfung, worunter auch Depressive und sogar ganz gesunde Menschen leiden, führt leider noch heute dazu, dass die Patienten von einem Großteil der Ärzteschaft, Angehörigen, Freunden und der Gesellschaft ganz allgemein nicht für voll genommen werden. Sie gelten als faul, antriebslos und unmotiviert, werden als Verhaltensgestörte, Simulanten und Drückeberger abgestempelt.

Wenn man sich also genauer anschaut, was die Verleugnung der Krankheit ME und ihre "Neuerfindung" als ein Syndrom mit dem verharmlosenden Namen „CFS“ angerichtet hat, kann man zu der Überzeugung gelangen, dass die Bezeichnung der Krankheit vielleicht doch keine so geringe Rolle spielt und die historisch und pathophysiologisch zutreffende Bezeichnung einiges zum Verständnis der Krankheit beitragen könnte.

Besonders im Hinblick auf die durch die dreiste Verleugnung der Krankheitshistorie ins Stocken geratene biomedizinische Erforschung als auch im Hinblick auf das allein durch den irreführenden Namen beschädigte gesellschaftliche Ansehen der Kranken wird es nur allzu verständlich, dass ME-Aktivisten auf dem Namen Myalgische Enzephalomyelitis bestehen, unter dem die Krankheit seinerzeit von der WHO verschlüsselt wurde und der ihr die Legitimation für die Einordnung in das Kapitel der neurologischen Krankheiten verschaffte.

Mehr zum Thema und den Hintergründen in meinem Buch, das auch im Buchhandel erhältlich ist.

1 Die NIH sind eine Behörde des Ministeriums fur Gesundheitspflege und Soziale Dienste der Vereinigten Staaten. Sie sind die wichtigste Behörde für biomedizinische Forschung in den USA.

2 Centers for Disease Control and Prevention, eine dem Gesundheitsministerium der Vereinigten Staaten unterstellte Behörde

Bildnachweise:

Frederic Edwin Church, Our Banner in the Skywww.commons.wikimedia.org
John Atkinson Grimshaw, Reflections on the Thames, Westminster, www.commons.wikimedia.org 
Albert Bierstadt, Lake Tahoe, www.commons.wikimedia.org
Lucas van Leyden, Das Schachspielwww.commons.wikimedia.org
Hieronymus Bosch, Der Trickkünstlerwww.commons.wikimedia.org 
Michelangelo Merisi da Caravaggio, Tod Mariae, Detail, www.zeno.org


Katharina Voss, Copyright 2015