Sonntag, 26. Juli 2015

ME oder CFS – das ist hier die Frage!


Wie nennen Sie diese Krankheit, die im ICD-10 unter G93.3 im Kapitel „Neurologische Erkrankungen“ verschlüsselt ist? Myalgische Enzephalomyelitis oder Chronic Fatigue Syndrom, ME oder CFS? Oder „Chronisches Erschöpfungssyndrom“ oder gar „Chronisches Müdigkeitssyndrom“?

Man mag einwenden, der Name tue nichts zur Sache, Hauptsache die Krankheit hat überhaupt einen Namen. Man könnte es als Haarspalterei abtun, wenn ME-Aktivisten auf der Bezeichnung „Myalgische Enzephalomyelitis“ bzw. ME bestehen.

Doch warum bestehen sie überhaupt auf der Bezeichnung?

Ein kurzer Ausflug in die Historie erhellt die Gründe für das Beharren auf diesem Namen. Zum ersten Mal registriert wurde diese Krankheit 1934 in Los Angeles, wo es unter den Mitarbeitern des L.A. County General Hospitals einen epidemischen Ausbruch mit 198 Betroffenen gab. Obwohl der von der NIH [1] nach Los Angeles geschickte Epidemiologe Alexander G. Gilliam in seinem Untersuchungsbericht festhielt, dass es sich bei diesem epidemischen Ausbruch nicht um eine der bekannten Formen der Poliomyelitis gehandelt habe, sondern um eine nie zuvor gesehene, der Medizin unbekannte Krankheit, nannte er sie „atypische Poliomyelitis“.



In der Folge wurden weltweit zahlreiche weitere epidemische Ausbrüche der gleichen Krankheit mit ganz unterschiedlichen behelfsmäßigen Krankheitsbezeichnungen registriert. Einer dieser Ausbrüche, 1955 unter den Mitarbeitern des Londoner „Royal Free Hospitals“, führte schließlich nach eingehender Auswertung des Krankheitsbildes zu der Bezeichnung „Benigne Myalgische Enzephalomyelitis“ – später meist nur noch „Myalgische Enzephalomyelitis“ genannt, da die Schwere der Erkrankung den Zusatz "benigne“ungerechtfertigt erscheinen ließ. Unter dieser Bezeichnung, die die Pathophysiologie der Krankheit am treffendsten beschreibt, und die durch Autopsieberichte und durch neuere Gehirnstudien gerechtfertigt erscheint, wurde die Krankheit 1969 von der WHO unter den neurologischen Krankheiten codiert.



Doch obwohl zwei britische Psychiater bereits ein Jahr später versuchten, den 15 Jahre zurückliegenden Ausbruch am „Royal Free Hospital“ zu einer Massenhysterie herunterzuspielen, war es bis zu der großen ME-Epidemie am Lake Tahoe im Jahre 1984 weitgehender medizinischer Konsens, die Krankheit als eine organische mit unbekanntem infektiösen Auslöser anzusehen. Erst die vergeblichen Versuche Stephen Straus`, des damaligen Leiters der Abteilung für Virologie der NIH, den epidemischen Ausbruch am Lake Tahoe sowie weitere landesweite Cluster mit dem Epstein-Barr-Virus als alleinigem Auslöser in Verbindung zu bringen, sorgten für die endgültige Vollziehung eines Paradigmenwechsels.



Denn Straus behauptete, frustriert von seinen Misserfolgen und wohl auch der Weisung seines Arbeitgebers, der NIH, folgend, bei dieser „neuen“ Krankheit handele es sich in Wirklichkeit um eine altbekannte, nämlich um die Neurasthenie, ein psychiatrisches Krankheitsbild, das der amerikanische Neurologe George Miller Beard 1869 erstmalig beschrieben hatte. Eine Verbindung zu den früheren ME-Epidemien wurde von vornherein unter den Teppich gekehrt bzw. gar nicht erst hergestellt, obwohl die globalen Ausbrüche gut dokumentiert waren und der NIH selbstverständlich bekannt gewesen sein dürften.

Unter völliger Missachtung der bereits vorhandenen und bekannten Forschungsliteratur zu ME einigten sich NIH und CDC [2] 1988 schließlich auf eine Syndromdefinition, in der die Bezeichnung ME und die früheren Epidemien mit keinem Wort Erwähnung fanden und die erstmals den Fokus auf die Fatigue, die Müdigkeit, legte. Der von dieser sogenannten Holmes-Definition vorgeschlagene bagatellisierende Name „Chronic Fatigue Syndrom“ sorgt bis heute für die Diskriminierung und Psychopathologisierung der Erkrankten.

Mit diesem Schachzug versuchten NIH und CDC, die Erinnerung an die infektiöse Krankheit ME in Vergessenheit geraten zu lassen. Es wurde eine neue Ära der Verleugnung eingeläutet, um die biomedizinische Erforschung der Krankheit zu stoppen und der psychiatrischen Forschung das Feld zu bereiten und rasanten Auftrieb zu geben.




Bemerkenswerterweise hatte man sich als namensgebendes Kardinalsymptom die Fatigue herausgepickt, die nicht einmal zwangsläufig ein Symptom der ME ist, geschweige denn das Kardinalsymptom. Viele ME-Patienten sind gar nicht müde, manche nur in der akuten Phase des ersten halben Jahres oder wenn sie tagelang unter schweren Schlafstörungen gelitten haben und kaum schlafen konnten oder wenn sie einen zusätzlichen Infekt durchmachen. In jedem Fall sind ME-Patienten nicht müder als andere Patienten mit schweren chronischen Krankheiten, wie z.B. Krebs oder Herzinsuffizienz.

Das Kardinalsymptom der ME ist ein ganz anderes, nämlich eine pathologische Muskelerschöpfbarkeit, die körperlichen Aktivitäten strenge Grenzen setzt und aufgrund der die Patienten nach geringer körperlicher Anstrengung eine Verschlimmerung aller ihrer neuroimmunologischen Symptome erleben.

Chronische Fatigue hingegen ist vor allem auch ein Begleitsymptom psychischer Erkrankungen, wie z.B. der Depression, aber auch einer Reihe weiterer Erkrankungen wie etwa Herzinsuffizienz, Morbus Addison usw.

Chronische Fatigue als das Kardinalsymptom dieser infektiösen Krankheit darzustellen, war also der unverfrorene – und leider gelungene – Versuch, Patientenkohorten zu vermischen, und zwar „echte“ ME-Patienten mit psychisch Erkrankten. Auf diese Weise ließ sich verschleiern, dass sich eine infektiöse und teilweise übertragbare Krankheit flächendeckend auszubreiten begann, die heute an die 17 Millionen Betroffene zählt, und deren „rätselhafter“ Charakter von den Verantwortlichen auch deshalb stets betont wurde, um Nichtzuständigkeit zu suggerieren und um von dem eklatanten Mangel an biomedizinischer Forschung abzulenken, die der wahre Grund für ihre weiterhin bestehende Rätselhaftigkeit ist.




Mal ganz abgesehen davon, dass Fatigue weder das Kardinalsymptom noch überhaupt ein Symptom der ME sein muss, sollte man sich aber auch fragen, welche Konsequenzen es für den Patienten haben kann, wenn seine Krankheit nach einem ihrer Symptome benannt wird und nicht nach ihrer Pathophysiologie.

Wenn man die bakterielle Infektionskrankheit Tuberkulose z.B. nach einem ihrer Symptome „Chronische Hüstelkrankheit“ genannt und auf ihre weitere biomedizinische Erforschung verzichtet hätte – so wie es weitgehend seit der Umbenennung von ME in “CFS“ der Fall war und noch ist –, würden die Tuberkulosepatienten noch heute mit einem Rezept für Hustensaft wieder nach Hause geschickt werden, wo sie möglicherweise weitere Personen anstecken und dann irgendwann elendiglich zugrunde gehen würden.

Genauso ergeht es aber den seit nunmehr drei Jahrzehnten so unzutreffend titulierten „CFS“-Patienten. Man schickt sie mit ein paar warmen, häufiger noch mit harschen Worten und vielen kontraindizierten Empfehlungen nach Hause und überlässt sie ansonsten nahezu gänzlich ihrem Verfall. Anders als unbehandelte Tuberkulosekranke versterben zwar nicht viele ME-Patienten unmittelbar an der Krankheit, ihr durchschnittliches Sterbealter liegt jedoch deutlich unter dem von Gesunden. Und nur allzu viele Langzeit-ME-Patienten sterben vorzeitig an den überhäufig auftretenden Folgekrankheiten, wie z.B. bestimmten Krebsarten oder Herzversagen. Viele weitere von eigener Hand – aus Verzweiflung oder weil sie ihre Schmerzen nicht mehr ertragen können.




Die von NIH und CDC 1988 via Definition und Namensgebung geschaffene Tatsachenbehauptung, dass es sich bei „CFS“ nicht um eine wirklich ernsthafte infektiöse Krankheit handelt, sondern nur um ein Syndrom mit dem Hauptsymptom Müdigkeit oder – je nach Interpretationswille – Erschöpfung, worunter auch Depressive und sogar ganz gesunde Menschen leiden, führt leider noch heute dazu, dass die Patienten von einem Großteil der Ärzteschaft, Angehörigen, Freunden und der Gesellschaft ganz allgemein nicht für voll genommen werden. Sie gelten als faul, antriebslos und unmotiviert, werden als Verhaltensgestörte, Simulanten und Drückeberger abgestempelt.

Wenn man sich also genauer anschaut, was die Verleugnung der Krankheit ME und ihre "Neuerfindung" als ein Syndrom mit dem verharmlosenden Namen „CFS“ angerichtet hat, kann man zu der Überzeugung gelangen, dass die Bezeichnung der Krankheit vielleicht doch keine so geringe Rolle spielt und die historisch und pathophysiologisch zutreffende Bezeichnung einiges zum Verständnis der Krankheit beitragen könnte.

Besonders im Hinblick auf die durch die dreiste Verleugnung der Krankheitshistorie ins Stocken geratene biomedizinische Erforschung als auch im Hinblick auf das allein durch den irreführenden Namen beschädigte gesellschaftliche Ansehen der Kranken wird es nur allzu verständlich, dass ME-Aktivisten auf dem Namen Myalgische Enzephalomyelitis bestehen, unter dem die Krankheit seinerzeit von der WHO verschlüsselt wurde und der ihr die Legitimation für die Einordnung in das Kapitel der neurologischen Krankheiten verschaffte.

Mehr zum Thema und den Hintergründen in meinem Buch, das auch im Buchhandel erhältlich ist.

1 Die NIH sind eine Behörde des Ministeriums fur Gesundheitspflege und Soziale Dienste der Vereinigten Staaten. Sie sind die wichtigste Behörde für biomedizinische Forschung in den USA.

2 Centers for Disease Control and Prevention, eine dem Gesundheitsministerium der Vereinigten Staaten unterstellte Behörde

Bildnachweise:

Frederic Edwin Church, Our Banner in the Skywww.commons.wikimedia.org
John Atkinson Grimshaw, Reflections on the Thames, Westminster, www.commons.wikimedia.org 
Albert Bierstadt, Lake Tahoe, www.commons.wikimedia.org
Lucas van Leyden, Das Schachspielwww.commons.wikimedia.org
Hieronymus Bosch, Der Trickkünstlerwww.commons.wikimedia.org 
Michelangelo Merisi da Caravaggio, Tod Mariae, Detail, www.zeno.org


Katharina Voss, Copyright 2015