Entwickle eine
Protestkultur. Es gibt eine Esskultur, wie es eine
Buch- und
Filmkultur gibt – und es gibt eine Protestkultur. Sie
besteht darin, unbequeme Fragen zu stellen,
Zweifel zu äußern,
etwas zu
verändern.
Nadja
Tolokonnikowa, Anleitung für eine
Revolution
„Meine Mutter war eine
kluge Frau …“ – so hebt die Grisette Marion im Dialog mit Danton in dem Drama Dantons
Tod an, „ …; sie sagte mir immer, die
Keuschheit sei eine schöne Tugend.“
Nun, was die Klugheit
betrifft, so könnte ich das Gleiche über meine Mutter sagen. Sie war die Einzige
unter ihren Schwestern, die studieren durfte und nur wegen der vehementen Fürsprache
ihrer Lehrerin. Und dann gleich Physik, ein Fach, das von den seinerzeit insgesamt
knapp 20.000 deutschen Studentinnen nur die allerwenigsten belegt und auch noch
mit einem Diplom abgeschlossen haben dürften. Im Freiburger Hörsaal waren meine
Mutter und ihre Studienfreundin jedenfalls die einzigen weiblichen Personen. Für
ihre Studienwahl brauchte sie also auch eine gehörige Portion Mut.
Was aber die Keuschheit
betrifft, so musste sich ihr Nachwuchs von ihr keine Vorhaltungen machen lassen,
wenngleich sie selbst – generationstypisch – ihr Leben an der Seite eines
einziges Mannes verbracht hat. Doch obwohl sie ihr berufliches Engagement stets
dessen Karriere unterordnete, begann sie nach 10 Jahren Haushalt und Kindererziehung
wieder zu arbeiten, und zwar ohne sich das damals nach Gesetzesregelung noch
notwendige Einverständnis ihres Ehemanns einzuholen. Auch dazu gehörte Mut.
Es brauchte Mut und
Zähigkeit, sich nach so langer Berufspause von hoffnungslos unterbezahlten Jobs
in der wissenschaftlichen Recherche und Dokumentation, die sie heillos
unterforderten, zu hoffnungslos unterbezahlten Jobs als Softwareentwicklerin
hochzuarbeiten. Sie entwickelte Programme zur Digitalisierung von Schriften und
der Automatisierung von gestickten Texten, die heute noch Relevanz besitzen,
doch die Lorbeeren für ihre Arbeit heimste ihr Brötchengeber ein. Das alles begleitet
von den krittelnden Kommentaren ihres Gatten, meines Vaters, der sie zwar
bewunderte und sich gerne auf ihren messerscharfen Verstand und ihre
unbestechliche Urteilskraft in seinen eigenen beruflichen Angelegenheiten verließ,
jedoch nicht ohne Dünkel auf die Naturwissenschaften im Allgemeinen herabsah
und im Besonderen auf die unbestreitbare und unbestrittene Tatsache, dass meine
Mutter sich von ihrer Firma nach allen Regeln der Kunst ausbeuten ließ. Selbstredend
auch von ihm, denn dass meine Mutter neben ihrem Vollzeitjob auch den Haushalt
alleine schmiss, war zumindest für ihn eine ausgemachte Sache.
Meine Mutter bewies
zwar Mut in manchen Dingen, doch aus heutiger Sicht mag uns ihr Leben zu
unemanzipiert erscheinen, sie selbst zu fügsam, nicht aufbegehrend genug.
Immerhin aber ist sie nicht vor Gram über den vergleichsweise lockeren Lebenswandel ihrer
Kinder gestorben wie die Mutter jener Marion aus dem Theaterstück. Sie war meistens
eine ziemlich tolerante Person, nur nicht in der Lage, für sich selbst das
einzufordern, was ihr zugestanden hätte.
Warte nicht, bis
man dir die Haut abzieht.
Nadja Tolokonnikowa,
Anleitung für eine Revolution
Das wurde besonders
deutlich, als es für sie ans Sterben ging. Gleich zwei verschiedene aggressive
Krebsarten rafften sie dahin. Sie gehörte zu der Sorte Moribunder, die man
gemeinhin als außerordentlich tapfer beschreibt. Nicht dass sie nicht wütend
gewesen wäre – besonders auf die Ärztin, die sie mit einer Falschdiagnose
wieder nach Hause schickte, weshalb der erste Krebs monatelang unbehandelt
blieb. Oder auf den Professor, der ihr, als sie ihm drei Monate vor ihrem Tod ein
paar Knubbel auf dem Kopf zeigte, ins Gesicht lachte und sagte, das seien keine
Metastasen und mit diesen Knubbeln würde sie sogar ihn noch überleben. Oder auf
die Ärztin, die sie vier Wochen vor ihrem Tod beim Lesen in ihrer eigenen Patientenakte
erwischte und sie wegen dieses „Vergehens“ zusammenstauchte. Oh ja, sie war
wütend! Sie war so wütend, dass sie zu mir sagte, am liebsten würde sie eine
Tasse gegen die Wand knallen, wobei sie ihre Worte mit ihrem vom Krebs
ausgezehrten Ärmchen pantomimisch illustrierte.
Ich bewunderte meine
Mutter dafür, dass sie dem Tod so gefasst ins Auge blickte. Sie bewahrte
Haltung. Sie wollte nicht bedauert und bemitleidet werden. Wenn ich mich zu
sehr um die Linderung ihrer Symptome kümmerte, forderte sie mich auf, sie
abzulenken. Geistige Nahrung war ihr wichtiger als betüddelt zu werden. Zum
ersten Mal in ihrer Ehe lehnte sie es auch ab, sich um meinen Vater zu kümmern
und sich damit zu beschäftigen, wie es mit ihm nach ihrem Tod weitergehen solle.
Sie war offenbar endlich einmal ganz auf sich selbst fokussiert.
Und doch konnte sie
sich bis zum Schluss nicht zur Wehr setzen. Sie begehrte nicht auf gegen die
Ärzte, die ihr, einer Naturwissenschaftlerin, die Wahrheit vorenthielten oder
sich gar nicht erst darum bemühten, sie herauszufinden. Selbst im Todeskampf
blieb sie – trotz Metastasen im Gehirn – diszipliniert. Sie litt Höllenqualen.
Aber anstatt zu schreien vor Schmerzen, jaulte meine Mutter nur hin und wieder
auf, was die Wochenendbesetzung der Klinik nur allzu bereitwillig überhörte.
Ich musste erst die Stationsschwester zusammenfalten, bis man sich endlich
herabließ, meiner Mutter das Martyrium wenigstens zu erleichtern.
Und wissen Sie, was die
dumme Gans zu mir sagte? „Soweit ist ja noch alles gut, die Atmung noch
regelmäßig …“
Gut??? Ich dachte, ich höre nicht richtig. Was
sollte an einer regelmäßigen Atmung gut sein, wenn der Patient sich nur noch quält?
Bei jedem einzelnen Atemzug meiner Mutter hoffte ich, es würde ihr letzter sein.
Ich wünschte mir Erlösung für sie und nicht die Verlängerung ihres furchtbaren
und unaushaltbaren Leidens.
Doch es war Sonntag und
die externe diensthabende Ärztin war nicht gewillt, die Verantwortung für ihr
Dahinscheiden zu übernehmen, weshalb sie Schmerzmittel und Sedativa nicht
ausreichend hoch dosierte. So sieht es nämlich aus, wenn Kliniken privatisiert werden und die ökonomische
Effizienz im Vordergrund steht und nicht etwa die adäquate Versorgung der
Patienten. „Willkommen
bei Asklepios! Wir stehen für eine menschliche und hoch qualifizierte Versorgung unserer
Patienten.“ – Pustekuchen!
Als montags der
Oberarzt wieder da war, durfte sie dann endlich gehen. Das ist nun auf den Monat genau zehn Jahre her …
Lehnt euch auf –
erst recht. Lehnt euch auf – trotz allem. Es wird sich auszahlen.
Nadja
Tolokonnikowa, Anleitung für eine
Revolution
Aber was geht uns heute
eigentlich ein Frauenschicksal einer im Jahre 1930 Geborenen an? Warum erzähle
ich Ihnen die Geschichte meiner Mutter überhaupt?
Weil sich seither nur
so wenig geändert zu haben scheint. Auch heute noch müssen Frauen zu im
Vergleich mit Männern wesentlich niedrigeren Löhnen und Gehältern arbeiten und
besonders häufig unter prekären Bedingungen; auch heute noch heften sich die
überwiegend männlichen Chefs die Verdienste ihrer Mitarbeiterinnen ans Revers;
auch heute noch müssen Frauen die meisten Arbeiten im Haushalt verrichten und den
Löwenanteil in der Kindererziehung übernehmen. Das einzige, was sich
grundlegend geändert zu haben scheint, ist der ökonomische und moralische Druck
auf Frauen, sich nach der Geburt ihrer Kinder möglichst rasch und ohne
Rücksicht auf die Bedürfnisse ihres Nachwuchses wieder in den Dienst unserer auf
Kapitalverwertung gründenden Gesellschaft zu stellen.
Zuweilen will es einem
scheinen, dass die Ausbeutung der Frauen mit ihrem Aufgabenzuwachs sogar eher noch
krassere Formen angenommen hat. Es fällt auf, dass die Frauen von heute sich offensichtlich
kaum besser dagegen zur Wehr setzen können als seinerzeit die Frauen der
Generation meiner Mutter.
Noch auffälliger ist
die Ungleichbehandlung der Geschlechter, wenn es um Krankheiten geht. Auch
heute noch sind kranke, insbesondere chronisch kranke Frauen – seien sie auch
noch so tapfer – Patienten zweiter Klasse, deren Beschwerden von vielen Ärzten
als Lappalien betrachtet werden, als Ausdruck mangelnder Selbstbeherrschung
oder gar als Willensschwäche. Und das, obwohl Frauen nur selten die klassische
Krankenrolle einnehmen können, weil sie mit der Vielzahl ihrer Aufgaben –
Beruf, Familie, Haushalt – in der Regel nicht vereinbar ist.
Gerade die Myalgische
Enzephalomyelitis mit ihrer Symptomvielfalt eignet sich ganz besonders dazu, ärztliche,
aber auch gesamtgesellschaftliche Vorurteile gegenüber weiblichen Patienten zu
schüren und zu pflegen und die von den Patientinnen geschilderten somatischen
Symptome zu einem sogenannten „funktionellen Syndrom“, zu einer „Befindlichkeitsstörung“,
zu „Müdigkeit“, „Burnout“, „gestörtem Allgemeinbefinden“ oder einer „vegetativen Dystonie“ kleinzureden.
Darüber hinaus bleiben Krankheiten
wie z.B. die Myalgische Enzephalomyelitis, Fibromyalgie,
Irritable-Bowl-Syndrom, an denen überwiegend Frauen erkranken, weitgehend
unerforscht. Weil Ursachenforschung und Entwicklung entsprechender Therapien
mit einem hohen Kostenaufwand verbunden wären, macht man sich gar nicht erst
die Mühe, die organischen Ursachen herauszufinden, und verschreibt lieber
Psychopharmaka, damit diese Frauen möglichst schnell wieder ihren sozialen,
beruflichen und familiären Pflichten Genüge leisten können. Mithilfe der
Psychopharmaka sollen diese Frauen gewissermaßen „gezähmt“ und an die ihnen von
der Gesellschaft angetragenen Aufgaben optimal angepasst werden. Greifen diese
psychiatrischen Behandlungen nicht – was bei organischen Krankheiten nicht
anders zu erwarten ist –, dient die psychiatrische Diagnose häufig dazu, diese
Frauen möglichst problemlos durch die Maschen des Sozialsystems fallen lassen
zu können. Da sie für den Kapitalverwertungsprozess nicht reaktiviert werden
konnten, sind sie schlicht unbrauchbar geworden.
Make rioting a
habit.
Nadja
Tolokonnikowa, Anleitung für eine
Revolution
Was unternehmen wir
gegen diese Ungleichbehandlung? Meistens gar nichts. Wir sitzen – und dieses
Szenario kennt jeder ME-Patient, der schon etwas länger erkrankt ist und Gelegenheit
hatte, sich mit der Krankheit zu beschäftigen – ganz brav vor unserem Arzt oder
Gutachter, buhlen um sein Verständnis für unsere bizarre Symptomatik und versuchen
nach Möglichkeit zu verbergen, dass wir wahrscheinlich zehnmal soviel wie unser
Gegenüber von unserer Krankheit verstehen. Warum machen wir das? Weil wir sie
nicht unnötig reizen wollen, wir wollen ja schließlich mit der Bestätigung der
Diagnose und einem akzeptablen Gutachten nach Hause gehen oder ihnen vielleicht
noch ein paar Rezepte und ein paar Untersuchungen auf Kasse abluchsen, da wir
ohnehin durch die Krankheit finanziell auf dem letzten Loch pfeiffen. Wir
spielen die Rolle des unterwürfigen und leicht depperten Patienten, weil uns
gar nichts anderes übrigbleibt, wenn wir nicht für unsere Aufmüpfigkeit mit
einer F-Störung bestraft werden wollen.
Falls wir ME-kranke
Kinder haben, dann nehmen wir Mütter zur Erstvorstellung des Kindes bei einem
Arzt zähneknirschend den Kindsvater mit, obwohl wir bisher im Leben auch
ziemlich gut alleine zurecht gekommen sind und nicht wie viele Frauen aus
früheren Generationen unseren Mann vorschicken mussten. Denn im Falle, dass wir
darauf verzichten, ihn mit zum Arzttermin zu schleppen, kann es uns nämlich blühen,
eine Münchhausen-by-proxy-Diagnose angehängt zu bekommen oder zumindest
Überfürsorglichkeit oder Überbesorgtheit und all solchen pseudopsychologischen
Käse.
Wenn in der Presse wieder
einmal unzutreffende Artikel über unsere Krankheit erscheinen oder vom
Bundesministerium für Gesundheit beauftragte Institute abermals einen Haufen
Desinformationen über unsere Krankheit verbreiten, dann schreiben wir gesittete
Leserbriefe, kniefällige Bittbriefe, händeringende Ersuchen und manierliche
Petitionen, obwohl wir am liebsten nicht nur eine Tasse gegen die Wand knallen,
sondern eine Bombe schmeißen würden angesichts der Missachtung und
Misshandlung, die wir seit Jahrzehnten ertragen müssen.
Schreie!
Nadja
Tolokonnikowa, Anleitung für eine
Revolution
Manchmal, an den Tagen,
wo der Gaul mit uns durchgeht, reißen wir verwegen das Ruder herum und treten
so selbstbewusst und kämpferisch auf, wie es unserem Naturell entspricht. Obwohl
das oftmals durchaus Wirkung zeigt, gefällt es nur den wenigsten Adressaten
unserer Empörung.
Doch meistens betragen wir uns schicklich und hoffen einfach nur, hoffen, dass sich bald etwas ändern und es in absehbarer Zeit eine
effektive Behandlung für alle geben wird. Aber Hoffnung und bloßes Wohlverhalten werden nichts verändern an unserer Lage, denn die ME-Patienten hoffen seit mehr als 80 Jahren
vergeblich darauf, dass man sich ernsthaft mit ihrer Krankheit
auseinandersetzt.
Wie war das nochmal mit
meiner Mutter? Zu unemanzipiert, zu fügsam, nicht aufbegehrend genug, tolerant,
aber nicht in der Lage, für sich selbst das einzufordern, was ihr zugestanden
hätte. Ja, das trifft ja wie die Faust aufs Auge ebenso auf uns ME-Kranke zu!
Du hast keine 500
Jahre. Lebe mit voller Wucht.
Nadja
Tolokonnikowa, Anleitung für eine
Revolution
Schmeißen wir doch die
Tugendhaftigkeit über Bord, machen wir uns unabhängig und pfeifen wie die
Grisette Marion auf Konventionen! Nehmen wir unser Schicksal in die Hand! Nehmen
wir uns das, was uns zusteht! Act up!
Was können wir schon
verlieren? Ein Wunder wird nicht geschehen, da können wir warten, bis wir
schwarz werden. Wir werden krank bleiben bis an unser Lebensende, wenn sich
nicht etwas ganz Grundlegendes in der ME-Politik ändert. Von unseren jungen Schwerstkranken,
die an progressiver ME leiden, werden etliche vorzeitig versterben, spätestens in
ihren Dreißigern, so wie Emily Collingridge, Sophia Mirza und Lynn Gilderdale.
Und wir werden nicht
einmal für unsere Leiden belohnt werden. Nein, es ist so wie Anton Tschechow es
einen der Insassen des Krankenzimmers Nr. 6 in seiner gleichnamigen Erzählung sagen
lässt: „... Und das Bittere und Kränkende ist, daß dieses Leben ja nicht mit
einer Belohnung für die Leiden, nicht mit einer Apotheose wie in der Oper enden
wird, sondern mit dem Tod; ...“.
Doch etwas Besseres als
den Tod finden wir überall, wie es schon in den Bremer Stadtmusikanten heißt.
Wenn wir nicht weiter bis zu unserem Ableben dahinsiechen wollen, müssen wir
den Druck erhöhen und eine angriffslustigere politische Strategie entwickeln. Je
vehementer wir unsere Rechte einfordern, desto schwieriger wird es für die
Verantwortlichen, unsere Stimmen zu ignorieren – zumal in diesen Zeiten der
guten Vernetzung! Wir brauchen so dringend biomedizinische Forschung, eine
angemessene medizinische Versorgung und eine effektive Therapie. Je lauter wir
uns mit diesen Forderungen bemerkbar machen, desto eher wird man uns hören.
Orientieren wir uns doch an der erfolgreichen Politik der
Act-up-AIDS-Aktivisten, die mit ihren öffentlichkeitswirksamen Aktionen so viel
für die AIDS-Kranken und HIV-Infizierten vorangetrieben haben!
Denn eines Tages wird
es für uns alle genau so kommen, wie meine kluge Mutter auf dem Sterbebett sagte:
„Das war`s! Mehr gibt`s nicht.“
Es waren übrigens ihre
letzten Worte.
Nadja Tolokonnikowa, Anleitung für eine Revolution, Hanser Berlin 2016
Georg Büchner, Dantons Tod, Reclam 1974
Anton Tschechow, Krankenzimmer Nr. 6, Meisternovellen,
Manesse Verlag 1946
Gebrüder Grimm, Die Bremer Stadtmusikanten, Lappan 2003, 3. Aufl.
Bildnachweise:
Igor Mukhin, Pussy Riot, www.commons.wikimedia.org
Denis Bochkarev, Pussy Riot, www.commons.wikimedia.org
Denis Bochkarev, Pussy Riot, www.commons.wikimedia.org
Katharina Voss, Copyright 2016