Wie nennen Sie diese Krankheit, die im ICD-10 unter G93.3
im Kapitel „Neurologische Erkrankungen“ verschlüsselt ist? Myalgische
Enzephalomyelitis oder Chronic Fatigue Syndrom, ME oder CFS? Oder „Chronisches
Erschöpfungssyndrom“ oder gar „Chronisches Müdigkeitssyndrom“?
Man mag einwenden, der Name tue nichts zur Sache,
Hauptsache die Krankheit hat überhaupt einen Namen. Man könnte es als
Haarspalterei abtun, wenn ME-Aktivisten auf der Bezeichnung „Myalgische
Enzephalomyelitis“ bzw. ME bestehen.
Doch warum bestehen sie überhaupt auf der Bezeichnung?
Ein kurzer Ausflug in die Historie erhellt die
Gründe für das Beharren auf diesem Namen. Zum ersten Mal registriert wurde
diese Krankheit 1934 in Los Angeles, wo es unter den Mitarbeitern des L.A.
County General Hospitals einen epidemischen Ausbruch mit 198 Betroffenen gab. Obwohl
der von der NIH [1] nach Los Angeles geschickte Epidemiologe Alexander G.
Gilliam in seinem Untersuchungsbericht festhielt, dass es sich bei diesem
epidemischen Ausbruch nicht um eine der bekannten Formen der Poliomyelitis
gehandelt habe, sondern um eine nie zuvor gesehene, der Medizin unbekannte
Krankheit, nannte er sie „atypische Poliomyelitis“.
In der Folge wurden
weltweit zahlreiche weitere epidemische Ausbrüche der gleichen Krankheit mit ganz
unterschiedlichen behelfsmäßigen Krankheitsbezeichnungen registriert. Einer
dieser Ausbrüche, 1955 unter den Mitarbeitern des Londoner „Royal Free
Hospitals“, führte schließlich nach eingehender Auswertung des Krankheitsbildes
zu der Bezeichnung „Benigne Myalgische Enzephalomyelitis“ – später meist nur
noch „Myalgische Enzephalomyelitis“ genannt, da die Schwere der Erkrankung den
Zusatz "benigne“ungerechtfertigt erscheinen ließ. Unter dieser Bezeichnung, die
die Pathophysiologie der Krankheit am treffendsten beschreibt, und die durch
Autopsieberichte und durch neuere Gehirnstudien gerechtfertigt erscheint, wurde
die Krankheit 1969 von der WHO unter den neurologischen Krankheiten codiert.
Doch obwohl zwei britische Psychiater bereits
ein Jahr später versuchten, den 15 Jahre zurückliegenden Ausbruch am „Royal
Free Hospital“ zu einer Massenhysterie herunterzuspielen, war es bis zu der
großen ME-Epidemie am Lake Tahoe im Jahre 1984 weitgehender medizinischer
Konsens, die Krankheit als eine organische mit unbekanntem infektiösen Auslöser
anzusehen. Erst die vergeblichen Versuche Stephen Straus`, des damaligen Leiters
der Abteilung für Virologie der NIH, den epidemischen Ausbruch am Lake Tahoe
sowie weitere landesweite Cluster mit dem Epstein-Barr-Virus als alleinigem
Auslöser in Verbindung zu bringen, sorgten für die endgültige Vollziehung eines
Paradigmenwechsels.
Denn Straus behauptete, frustriert von seinen Misserfolgen
und wohl auch der Weisung seines Arbeitgebers, der NIH, folgend, bei dieser
„neuen“ Krankheit handele es sich in Wirklichkeit um eine altbekannte, nämlich
um die Neurasthenie, ein psychiatrisches Krankheitsbild, das der amerikanische
Neurologe George Miller Beard 1869 erstmalig beschrieben hatte. Eine Verbindung
zu den früheren ME-Epidemien wurde von vornherein unter den Teppich gekehrt bzw. gar
nicht erst hergestellt, obwohl die globalen Ausbrüche gut dokumentiert waren
und der NIH selbstverständlich bekannt gewesen sein dürften.
Unter völliger Missachtung der bereits
vorhandenen und bekannten Forschungsliteratur zu ME einigten sich NIH und CDC
[2] 1988 schließlich auf eine Syndromdefinition, in der die Bezeichnung ME und
die früheren Epidemien mit keinem Wort Erwähnung fanden und die erstmals den Fokus
auf die Fatigue, die Müdigkeit, legte. Der von dieser sogenannten
Holmes-Definition vorgeschlagene bagatellisierende Name „Chronic Fatigue
Syndrom“ sorgt bis heute für die Diskriminierung und Psychopathologisierung der
Erkrankten.
Mit diesem Schachzug versuchten NIH und CDC,
die Erinnerung an die infektiöse Krankheit ME in Vergessenheit geraten zu
lassen. Es wurde eine neue Ära der Verleugnung eingeläutet, um die
biomedizinische Erforschung der Krankheit zu stoppen und der psychiatrischen
Forschung das Feld zu bereiten und rasanten Auftrieb zu geben.
Bemerkenswerterweise hatte man sich als namensgebendes
Kardinalsymptom die Fatigue herausgepickt, die nicht einmal zwangsläufig ein
Symptom der ME ist, geschweige denn das Kardinalsymptom. Viele ME-Patienten
sind gar nicht müde, manche nur in der akuten Phase des ersten halben Jahres
oder wenn sie tagelang unter schweren Schlafstörungen gelitten haben und kaum
schlafen konnten oder wenn sie einen zusätzlichen Infekt durchmachen. In jedem
Fall sind ME-Patienten nicht müder als andere Patienten mit schweren
chronischen Krankheiten, wie z.B. Krebs oder Herzinsuffizienz.
Das Kardinalsymptom der ME ist ein ganz
anderes, nämlich eine pathologische Muskelerschöpfbarkeit, die körperlichen
Aktivitäten strenge Grenzen setzt und aufgrund der die Patienten nach geringer
körperlicher Anstrengung eine Verschlimmerung aller ihrer neuroimmunologischen
Symptome erleben.
Chronische Fatigue hingegen ist vor allem
auch ein Begleitsymptom psychischer Erkrankungen, wie z.B. der Depression, aber
auch einer Reihe weiterer Erkrankungen wie etwa Herzinsuffizienz, Morbus
Addison usw.
Chronische Fatigue als das Kardinalsymptom
dieser infektiösen Krankheit darzustellen, war also der unverfrorene – und leider
gelungene – Versuch, Patientenkohorten zu vermischen, und zwar „echte“
ME-Patienten mit psychisch Erkrankten. Auf diese Weise ließ sich verschleiern,
dass sich eine infektiöse und teilweise übertragbare Krankheit flächendeckend
auszubreiten begann, die heute an die 17 Millionen Betroffene zählt, und deren
„rätselhafter“ Charakter von den Verantwortlichen auch deshalb stets betont
wurde, um Nichtzuständigkeit zu suggerieren und um von dem eklatanten Mangel an
biomedizinischer Forschung abzulenken, die der wahre Grund für ihre weiterhin
bestehende Rätselhaftigkeit ist.
Mal ganz abgesehen davon, dass Fatigue weder
das Kardinalsymptom noch überhaupt ein Symptom der ME sein muss, sollte man
sich aber auch fragen, welche Konsequenzen es für den Patienten haben kann,
wenn seine Krankheit nach einem ihrer Symptome benannt wird und nicht nach
ihrer Pathophysiologie.
Wenn man die bakterielle Infektionskrankheit Tuberkulose z.B.
nach einem ihrer Symptome „Chronische Hüstelkrankheit“ genannt und auf ihre
weitere biomedizinische Erforschung verzichtet hätte – so wie es weitgehend seit
der Umbenennung von ME in “CFS“ der Fall war und noch ist –, würden die Tuberkulosepatienten
noch heute mit einem Rezept für Hustensaft wieder nach Hause geschickt werden,
wo sie möglicherweise weitere Personen anstecken und dann irgendwann
elendiglich zugrunde gehen würden.
Genauso ergeht es aber den seit nunmehr drei Jahrzehnten so
unzutreffend titulierten „CFS“-Patienten. Man schickt sie mit ein paar warmen,
häufiger noch mit harschen Worten und vielen kontraindizierten Empfehlungen
nach Hause und überlässt sie ansonsten nahezu gänzlich ihrem Verfall. Anders
als unbehandelte Tuberkulosekranke versterben zwar nicht viele ME-Patienten unmittelbar
an der Krankheit, ihr durchschnittliches Sterbealter liegt jedoch deutlich
unter dem von Gesunden. Und nur allzu viele Langzeit-ME-Patienten sterben
vorzeitig an den überhäufig auftretenden Folgekrankheiten, wie z.B. bestimmten
Krebsarten oder Herzversagen. Viele weitere von eigener Hand – aus Verzweiflung
oder weil sie ihre Schmerzen nicht mehr ertragen können.
Die von NIH und CDC 1988 via Definition und Namensgebung
geschaffene Tatsachenbehauptung, dass es sich bei „CFS“ nicht um eine wirklich ernsthafte
infektiöse Krankheit handelt, sondern nur um ein Syndrom mit dem Hauptsymptom Müdigkeit
oder – je nach Interpretationswille – Erschöpfung, worunter auch Depressive und
sogar ganz gesunde Menschen leiden, führt leider noch heute dazu, dass die Patienten
von einem Großteil der Ärzteschaft, Angehörigen, Freunden und der Gesellschaft
ganz allgemein nicht für voll genommen werden. Sie gelten als faul, antriebslos
und unmotiviert, werden als Verhaltensgestörte, Simulanten und Drückeberger abgestempelt.
Wenn man sich also genauer anschaut, was die Verleugnung
der Krankheit ME und ihre "Neuerfindung" als ein Syndrom mit dem verharmlosenden Namen „CFS“ angerichtet
hat, kann man zu der Überzeugung gelangen, dass die Bezeichnung der Krankheit vielleicht
doch keine so geringe Rolle spielt und die historisch und pathophysiologisch zutreffende
Bezeichnung einiges zum Verständnis der Krankheit beitragen könnte.
Besonders im Hinblick auf die durch die dreiste Verleugnung der Krankheitshistorie ins
Stocken geratene biomedizinische Erforschung als auch im Hinblick auf das allein durch
den irreführenden Namen beschädigte gesellschaftliche Ansehen der Kranken wird
es nur allzu verständlich, dass ME-Aktivisten auf dem Namen Myalgische
Enzephalomyelitis bestehen, unter dem die Krankheit seinerzeit von der WHO verschlüsselt
wurde und der ihr die Legitimation für die Einordnung in das Kapitel der
neurologischen Krankheiten verschaffte.
1 Die NIH sind eine Behörde des Ministeriums fur
Gesundheitspflege und Soziale Dienste der Vereinigten Staaten. Sie sind die
wichtigste Behörde für biomedizinische Forschung in den USA.
Bildnachweise:
Frederic Edwin Church, Our Banner in the Sky, www.commons.wikimedia.org
John Atkinson Grimshaw, Reflections on the Thames, Westminster, www.commons.wikimedia.org
Albert Bierstadt, Lake Tahoe, www.commons.wikimedia.org
Lucas van Leyden, Das Schachspiel, www.commons.wikimedia.org
Hieronymus Bosch, Der Trickkünstler, www.commons.wikimedia.org
Michelangelo Merisi da Caravaggio, Tod Mariae, Detail, www.zeno.org
Katharina Voss, Copyright 2015