Samstag, 19. Dezember 2015

Frohes Fest!


Im Vorweihnachtstrubel steht das ganze Land Kopf. Die Leute sind im Einkaufsrausch, um Wunschlisten abzuarbeiten, im Dekofieber, um ihr Heim festlich herauszuputzen, im Terminstress, um Weihnachtsfeiern von Kindergarten, Schule, Firma und Verein zu absolvieren, und im Back- und Kochwahn, um in einer Aufwallung christlicher Nächstenliebe auch noch die mäklige Verwandtschaft über die Feiertage zufriedenstellend verköstigen zu können. Hektische Betriebsamkeit paart sich mit der Vorfreude auf ein paar nette, friedliche Tage mit der Familie. Die Menschen scheinen sich in der Vorweihnachtszeit für kurze Zeit im Ausnahmezustand zu befinden, selbst die, die sich bewusst dem Konsumterror und allen gesellschaftlichen Zwängen verweigern. Wenn dann am Nachmittag des 24. urplötzlich eine geradezu geisterhafte Stille eintritt, die Straßen leergefegt sind, weil die Familien sich um ihren im Lichterglanz erstrahlenden Tannenbaum versammeln, und die Bescherung beginnt, löst der eine Ausnahmezustand den anderen ab. Doch Letzterer ist nur von sehr kurzer Dauer.

Bei ME-Kranken herrscht eigentlich das ganze Jahr über Ausnahmezustand, nicht nur zur Weihnachtszeit. Und es ist ein Ausnahmezustand ganz unfreiwilliger Art: Denn man lässt sie nicht zur Ruhe kommen – egal wie krank sie sind. Fortwährend müssen sie um eine adäquate medizinische und finanzielle Versorgung und um soziale Anerkennung kämpfen. Andauernd müssen sie um wenigstens ein Minimum an familiärem Halt und emotionaler Unterstützung buhlen. Pausenlos müssen sie darum bangen, überhaupt als Schwerkranke wahr- und ernstgenommen zu werden. Unentwegt begleitet sie die Sorge, dass sich ihre gesundheitliche Situation noch weiter verschlechtern könnte. Immerzu leben sie in der Furcht, wegen Begleiterkrankungen oder Komplikationen ins Krankenhaus eingewiesen zu werden, wo man ihre Grunderkrankung nicht kennt und wo auch keine Rücksicht auf ihre spezielle Symptomatik genommen wird. Permanent belastet sie die Vorstellung, ins Pflegeheim abgeschoben zu werden, weil sie niemanden haben, der sie angemessen versorgen könnte. Ohne Unterlass müssen sie befürchten, von uninformierten Ärzten, Pflegern, Bekannten, Freunden und Verwandten psychopathologisiert und womöglich in die Psychiatrie zwangseingewiesen zu werden, wie es schon unzähligen Mitpatienten widerfahren ist.

Zusätzlich zu diesen Dauerkriegsschauplätzen trägt ganz wesentlich die neurologische Symptomatik der ME-Kranken zur Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands bei. Denn ihre sensorischen Überempfindlichkeiten verhindern, dass sie wie andere Behinderte und chronisch Kranke am Leben partizipieren können. Sinnesempfindungen wie visuelle, auditive, taktile, olfaktorische und gustatorische Wahrnehmungen können den ME-Patienten derart überwältigen, dass er gezwungen ist, sich häufig zurückzuziehen oder sogar in völliger Isolation zu leben. Auch das anhaltende Krankheitsgefühl, das von der grippeähnlichen Symptomatik, den Schmerzen und der überwältigenden Erschöpfung herrührt, sowie die pathologische Muskelerschöpfbarkeit und die Zustandsverschlechterung nach oftmals nur geringfügiger Belastung verhindern seine Teilhabe am Leben.




Die meisten chronischen Krankheiten beeinträchtigen das Leben mehr oder weniger stark, aber einige sind nur sehr schwer erträglich und gehören, wenn sie ein bestimmtes Stadium erreicht haben, zu den entsetzlichsten Krankheiten, die man sich als Gesunder überhaupt nur ausmalen kann. Myalgische Enzephalomyelitis zählt ohne Zweifel dazu.


Wenn ich Gesunden oder auch Kranken vom Leben meiner beiden Töchter berichte oder von dem, was davon übrig geblieben ist, können die meisten kaum begreifen, dass sie überhaupt noch einen Lebenswillen besitzen. „Wie halten sie das nur aus? Wie kann man so etwas aushalten? Ich könnte das nicht aushalten“, bekomme ich immer wieder zu hören.

Ja, wie kann man so etwas aushalten? Eine Krankheit, die eine 22-Jährige und eine 15-Jährige nötigt, Tag und Nacht meist in völliger Dunkelheit vor sich hinzuvegetieren? Eine Krankheit, die sie zwingt, weitgehend ohne Gesellschaft, ohne Gespräche (das Notwendigste kommunizieren sie meist über Handzeichen), ohne Umarmungen (wegen der Berührungsempfindlichkeit), ohne Trostworte und sogar ganz ohne jegliche Beschäftigung und Ablenkung auskommen zu müssen? Einen Zustand, der nur durch die Aufnahme von Mahlzeiten, die Verrichtung der Notdurft und durch Hygienemaßnahmen unterbrochen wird?

Ich weiß nicht, wie man das aushalten kann.

„Und wie halten Sie das eigentlich aus?“, werde ich dann als nächstes gefragt. Die Frage kann ich kaum beantworten. Ich murmele dann für gewöhnlich etwas davon, dass mir ja gar nichts anderes übrigbliebe als es auszuhalten. Was mich aber am meisten quält, ist der Umstand, dass mir kaum Möglichkeiten verblieben sind, Trost zu spenden. Ich sehne mich danach, meine Töchter in den Arm nehmen zu können und sie zu trösten. Ich sehne mich danach, mich mit ihnen zu unterhalten und von ihnen zu erfahren, was in ihnen in diesen dauerhaft dunklen Stunden vorgeht. Ich ersehne den Tag herbei, an dem die beiden wieder einmal die Kraft haben werden, sich „besuchen“ und miteinander reden zu können. Das war im letzten halben Jahr leider nur einmal und nicht ohne weitere gesundheitliche Einbußen möglich – obwohl sie doch Wand an Wand liegen.


Aber vor allem sehne ich mich danach, ihre Hoffnung auf eine wirksame Behandlung mit neuen, überzeugenden Forschungsergebnissen bestätigen zu können. Nicht, dass ich das nicht andauernd täte. Was bleibt mir auch anderes übrig als Mutter? Aber ich würde ihre Hoffnungen gerne guten Gewissens nähren können. Denn noch rede ich sozusagen ins Blaue hinein, mit bleischwerem Herzen. Es ist bislang fraglich, ob es jemals eine wirksame Behandlung auch für die Schwerkranken unter den ME-Patienten geben wird. Und es tun sich weitere Fragen auf: Werden meine Töchter durchhalten, bis eine solche Behandlung vielleicht tatsächlich eines Tages existiert? Werde ich die Pflege meiner beiden Töchter bis dahin schaffen? Werden wir als Familie die Belastung auf Dauer durchstehen können? Eine Belastung, die seit nunmehr schon sechseinhalb Jahren anhält und die bislang mit jedem weiteren Jahr exponentiell zugenommen hat?

ME-Patienten und ihre Angehörigen haben also lange Weihnachtswunschlisten. Die meisten ihrer Wünsche sind immaterieller Beschaffenheit. Sie stehen nicht auf den Listen ihrer Mitmenschen, weil Wünsche in der Regel nur für etwas formuliert werden, woran Mangel herrscht. Aber Gesunde nehmen all das, woran es ME-Kranken mangelt, für selbstverständlich: Gesundheit, Gesellschaft, Familie, Freunde, Arbeit, Rente, eine medizinische Versorgung, wenn man krank wird, und vieles mehr.


Viele ME-Kranke werden versuchen, das Weihnachtsfest zumindest für ein paar Stunden mit der Familie gemeinsam zu verbringen. Etliche werden an den Festtagen ganz allein bleiben. Einige, wie wir beispielsweise, werden das Weihnachtsfest ganz ausfallen lassen müssen. Ein Zusammensein wird nicht möglich sein und Geschenke würden meine Töchter nur heillos überfordern. Die Geburtstagsgeschenke meiner Älteren stapeln sich unausgepackt seit Ende Juni auf einem Stuhl in der Zimmerecke. Sie hatte keine Kraft, sich feiern zu lassen, geschweige denn ihren Geburtstag selbst feiern zu können. Kann sich jemand, der einen schwerkranken ME-Patienten nicht aus nächster Nähe erlebt hat, das überhaupt vorstellen? Dass ein Mensch so krank sein kann, dass ihn selbst ein einziges Geschenk bereits überanstrengt und noch kränker macht?

Heiligabend und die beiden Weihnachtstage werden sich bei uns also nicht von den 362 anderen Tagen des Jahres unterscheiden. Nur das uns ohnehin ständig begleitende Gefühl, vom Leben ausgeschlossen zu sein, im Ausnah-ME-zustand zu sein, wird an diesen Tagen noch stärker und schmerzhafter zu spüren sein als sonst.

Ich wünsche dennoch allen von Herzen ein frohes Fest!















Katharina Voss, Copyright 2015 

Donnerstag, 26. November 2015

Herzlich willkommen – Gesundheit ade?


Tausende Asylsuchende überqueren derzeit Tag für Tag die deutsche Grenze. Was die meisten von ihnen verständlicherweise nicht im Gepäck haben, ist ein Impfausweis. [Eppinger, 10/2015] Das liegt hauptsächlich daran, dass die medizinische Versorgung inklusive der Impfraten in den Herkunftsländern der Asylsuchenden nicht unseren Maßstäben entsprechen, und in eher seltenen Fällen daran, dass man auf eine Flucht nur das Notwendigste mitnimmt oder unter Umständen einen Teil seiner Habe unterwegs verliert bzw. zurücklassen muss.



Nicht überraschend, dass das Robert Koch Institut (RKI) Alarm schlägt. Denn die Asylsuchenden müssen in den Erstaufnahmeeinrichtungen oder in den kommunalen Behelfsunterkünften für längere Zeit auf engem Raum zusammenleben, was mit einem erhöhten Risiko des Ausbruchs von Infektionskrankheiten einhergeht. Dennoch sind laut RKI bislang kaum Krankheitsfälle gemeldet worden, wie in der FAZ zu lesen war. [FAZ, 10/2015]

Das dürfte sich möglicherweise bald ändern. Denn das RKI hat in Abstimmung mit der Ständigen Impfkommission (STIKO) ein Papier erarbeitet, das „Empfehlungen für ein „Mindest-Impfangebot“ für ungeimpfte Asylsuchende und Asylsuchende mit unklarem Impfstatus“ enthält. [RKI, 10/2015] Möglichst bald nach ihrer Ankunft, innerhalb der ersten Tage in der Erstaufnahmeeinrichtung, sollen Asylsuchende nun einen eventuell fehlenden Impfschutz nachholen. Man hat dabei nicht nur den individuellen Schutz der Asylsuchenden im Auge, sondern will verhindern, dass sich eine epidemiologisch relevante Bevölkerungsgruppe mit unzureichendem Impfschutz entwickelt.

Das ist eine nachvollziehbare Sorge. Doch leider wird dabei einiges übersehen. Viele Flüchtlinge kommen bei uns in einem Zustand der Erschöpfung an. Darüber hinaus werden sie hier mit Pathogenen konfrontiert, mit denen sie bislang keinen Kontakt hatten. Ihr Immunsystem ist also in den ersten Wochen nach ihrer Ankunft vollauf mit der Abwehr von fremden Erregern beschäftigt. [RP online, 9/2015] Eigentlich erstaunlich, dass bislang kaum Krankheitsfälle gemeldet wurden. Auch der Mediziner und Gesundheitsexperte der SPD Karl Lauterbach bestätigt, dass die Flüchtlinge körperlich in „einer erstaunlich guten Verfassung“ seien. [RP online, 9/2015] Der Präsident der Bundesärztekammer Frank-Ulrich Montgomery spricht sogar "von übernormal gesunde(n) Menschen." [DIE WELT, 12/2015] Die Menschen, die gekommen sind, scheinen besonders robust zu sein.




Doch diese Robustheit könnte sich bei den Empfindlicheren von ihnen schnell verflüchtigen, wenn sie, wie vorgeschlagen, in den ersten Ankunftstagen geimpft werden sollen. Denn eine zusätzliche Immunstimulation durch eine Impfung könnte die gesamte Immunabwehr ins Kippen geraten lassen, so dass tatsächlich Krankheiten ausgelöst werden.

Impfungen stimulieren die Produktion von B- und T-Lymphozyten, um das Immunsystem anzuregen, ausreichend Antikörper zu bilden, die in der Lage sind, ein krankmachendes Virus im Falle einer Ansteckung erfolgreich auszuschalten, so dass es nicht zum Ausbruch der Krankheit kommt. Mit dem Anstieg der B- und T-Lymphozyten vermehren sich allerdings auch sämtliche Viren, die sich in diesen Reservoirs tummeln.

Schon eine einfache Typhus-Impfung ruft drei Stunden nach Injektion einen Anstieg des zirkulierenden proinflammatorischen Zytokin-Levels (Interleukin-6) um das fast dreifache hervor, was auf Induktion einer milden systemischen Entzündung hinweist. [Harrison et al., 2014] Eine aktive Impfung löst also durch Stimulation des Immunsystems eine Entzündungsreaktion aus und beschert dem Impfling eine leichte Infektion. Deshalb haben frisch Geimpfte oftmals Nebenwirkungen wie Fieber und körperliches Unwohlsein.

Immunisierungen können sich darüber hinaus negativ auf einen geschwächten Allgemeinzustand auswirken, wie ihn viele der von den Strapazen der Flucht Erschöpfte zeigen. Auch der Verlauf bereits bestehender Vorerkrankungen kann durch eine Impfung negativ beeinflusst werden. Deshalb sollte einer Impfung immer eine sorgfältige Beurteilung des Allgemeinzustandes und eventueller Gegenanzeigen vorausgehen. Doch genau die kann womöglich nicht gewährleistet werden, wenn bereits in den ersten Ankunftstagen geimpft werden soll.

Denn die gemäß §62 Asylverfahrensgesetz vorgeschriebene Erstuntersuchung in den Erstaufnahmeeinrichtungen kann, wie der Hartmannbund vermeldete, aufgrund des großen Zustroms von Flüchtlingen offenbar nicht immer laut Bestimmungen durchgeführt werden. [Hartmannbund, 2015] Bis die Asylsuchenden auf infektiöse Krankheiten untersucht werden, dauert es zum Teil mehrere Wochen, berichtet die Presse vielerorts. [stern, 11/2015; WESTPOL, 9/2015; WAZ, 9/2014; Hessenschau, 8/2015; Freie Presse, 10/2015] Weil es in den Einrichtungen an Personal und Gerät mangelt, wird auch die zwingend vorgeschriebene Thorax-Röntgenaufnahme zum Ausschluss einer offenen (infektiösen) Lungentuberkulose häufig nicht in den ersten Ankunftstagen gemacht. Insgesamt ist die ärztliche Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland bislang völlig unzureichend. [Eppinger, 6/2015]




Auf diesem Hintergrund fragt man sich, wie die Impfempfehlungen des RKI und der STIKO überhaupt durchgeführt werden sollen. Grundsätzlich ist zwar jeder Impfling über die zu verhütenden Krankheiten und die geplanten Impfungen aufzuklären und seine Impffähigkeit muss eingeschätzt werden, doch das dürfte schon am Ärztemangel und an Sprachbarrieren scheitern. Steht zu befürchten, dass die Asylsuchenden am Ende großenteils ohne Erstuntersuchung, ohne Feststellung der Impffähigkeit und ohne adäquate Aufklärung geimpft werden?

Banale Infekte mit subfebrilen Temperaturen stellen laut RKI ohnehin keine Kontraindikation für Impfungen dar. Das mag zutreffen, wenn der Hausarzt seinen Patienten und dessen Immunstatus gut kennt. Doch was, wenn das nicht der Fall ist? Was, wenn die subfebrilen Temperaturen kein Anzeichen eines banalen Infekts, sondern einer nicht auf den ersten Blick erkennbaren ernsten Erkrankung sind, wie z.B. einer aktiven unbehandelten Tuberkulose, bei der eine MMR-Impfung kontraindiziert ist? [Kollaritsch, Wiedermann, 2013] Oder was, wenn die erhöhte Temperatur Anzeichen einer opportunistischen Infektion bei einer nicht diagnostizierten HIV-Infektion ist und dennoch geimpft wird?

In einigen Ländern wie Afghanistan, Nigeria und Somalia ist Tuberkulose hochprävalent und im 1. Halbjahr 2015 wurden bereits 123 Tuberkulosefälle bei Asylbewerbern gemeldet. [Hartmann, 10/2015] Viele der Flüchtlinge kommen auch aus HIV-Hochprävalenzländern, was sich laut RKI bereits in den deutschen HIV-Meldedaten bemerkbar zu machen scheint. [RKI, 7/2015] HIV-Infizierte sollten jedoch nach Möglichkeit vor einer Impfung bereits antiretroviral therapiert worden sein, denn die Aktivierung des Immunsystems durch eine Impfung könnte zu einer vermehrten Virusproduktion führen, wodurch das Fortschreiten der HIV-Erkrankung beschleunigt wird. [Hecht, Luetkemeyer, 2011; Rump, o.J.]



Tropenmediziner sind aus gutem Grund von kurzfristigen Immunisierungen, die sogar noch direkt vor Reiseantritt am Flughafen angeboten werden, nicht begeistert, [SPIEGEL, 12/2011] obwohl viele von ihnen auch nicht direkt davon abraten. Nach ärztlichem Verständnis fehlen bei diesen sogenannten „Last-Minute-Impfungen“ sowohl die notwendige umfassende Beratung als auch in den ersten Tagen nach Immunisierung der volle Impfschutz. Außerdem ist bei einigen Impfungen mit Nebenwirkungen, wie z.B. grippeähnlichen Symptomen, zu rechnen. Zahlreiche Einzelberichte von Patienten, insbesondere auch ME-Patienten, die den Ausbruch ihrer Erkrankung mit einer kurz vor Abflug erhaltenen Impfung und einem in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft im Reiseland aufgepickten Infekt verknüpfen können, verwundern in diesem Zusammenhang nicht.

Denn wenn der Reisende bereits auf fremde Erreger trifft, während das Immunsystem noch vollauf mit der Stimulation durch die Impfung beschäftigt ist, kann es zu einer Überwältigung des Immunsystems kommen, so dass es nicht mehr in der Lage ist, Infektionen unter Kontrolle zu halten. Das gleiche Szenario gilt auch umgekehrt: Gar nicht selten erwerben die Flüchtlinge, die bei uns ankommen, die Infektionen nämlich erst hier [Hartmann, 10/2015], und wenn das Immunsystem eines von der Flucht Geschwächten mit der Erregerabwehr ohnehin schon voll ausgelastet ist und dann noch obendrein geimpft wird, könnte das Immunsystem unter der Überstimulation kapitulieren. Das gilt umsomehr, wenn – wie von STIKO und RKI empfohlen – 4-, 5- und sogar 6-Fachimpfungen verabreicht werden.

Und ganz besonders gilt das für genetisch prädisponierte Menschen, deren antivirales Abwehrsystem defekt ist.Wenn bei ihnen ein Ereignis wie beispielsweise eine Impfung hinzukommt, das die B- und T-Zellen expandieren lasst, kann die Balance zwischen Immunantwort und Viren zerstört werden mit der Folge einer ernsthaften chronischen Erkrankung wie etwa ME oder ASIA (autoimmune /auto-inflammatory syndrome induced by adjuvants). [Brinth et al., 2015; Agmon-Levin et al., 2014; Colafrancesco et al., 2013; Carruthers et al., 2012; England, 2012; Jones, 1997]

Ob aber jemand immunkompetent ist oder eben nicht, lässt sich nicht ohne weiteres auf die Schnelle feststellen. Eine gründliche und entsprechend zeitintensive Anamnese inklusive Familienanamnese würde in jedem Fall zu einer Untersuchung auf Immunkompetenz dazugehören. Doch die fällt – schon aus Zeitmangel in der überfüllten Praxis – häufig auch bei einer vergleichsweise guten oder sehr guten medizinischen Versorgung unter den Tisch und die Aufklärung über eventuelle Risiken und Nebenwirkungen einer Impfung ebenfalls.

Muss man nun mit einem sprunghaften Anstieg von ME-Erkrankungen bei den Flüchtlingen rechnen? Wohl kaum, denn die europäische Abschottungspolitik habe zu einer Benachteiligung flüchtender Frauen und einem „Asyldarwinismus“ geführt, wie die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl verlautbarte. [SWP, 7/2015] Während Frauen und Kinder häufig nur ins unmittelbar angrenzende Land fliehen, machen sich überwiegend männliche Familienmitglieder auf die weite, gefahrenreiche Fluchtroute nach Europa auf und von ihnen schlagen sich nur die Stärksten bis zu uns durch. Das Risiko an ME zu erkranken, ist jedoch für Männer deutlich niedriger als für Frauen, zumal wenn diese Männer noch von guter Gesamtkonstitution sind. (Was keineswegs heißen soll, dass Menschen mit guter Konstitution nicht auch ME bekommen könnten!)

Sorgen muss man sich allerdings um die Frauen und Kinder machen, die unter diesen Umständen geimpft werden sollen, zumal Kinder bevorzugt geimpft werden sollen, wenn in einer Einrichtung nicht genügend Impfstoffe zur Verfügung stehen. [RKI, 10/2015] Sorgen muss man sich aber auch um die Mitarbeiter/innen in den Einrichtungen für Asylsuchende und die ehrenamtlichen Helfer/innen machen, die nach den Empfehlungen der STIKO neben den Standardimpfungen auch Hepatitis A- und B-Impfungen, eine Polioauffrischimpfung und eine Influenzaimpfung erhalten sollen. [RKI, 10/2015] Diese Personen arbeiten derzeit bis an den Rand der Erschöpfung, sind ebenso wie die Flüchtlinge mit fremden Pathogenen konfrontiert und sollen sich dennoch in dieser kräftezehrenden Situation impfen lassen.



Besonders für die letztere Personengruppe könnten die Impfempfehlungen von STIKO und RKI nach hinten losgehen. Denn möglicherweise ist die Robustheit der Asylsuchenden nicht nur auf den „Asyldarwinismus“ zurückzuführen, sondern auch darauf, dass das Immunsystem bei einem Großteil der Flüchtlinge intakt ist, weil es noch nicht durch Impfungen kompromittiert wurde. Doch ein Teil der hierzulande mehr oder weniger komplett Durchgeimpften leidet bereits unter einer Immunschwäche, weil durch Impfungen im Säuglingsalter die Entwicklung einer zellulären Immunität gehemmt wurde. Deshalb konnte ihr Immunsystem nicht „lernen“, angemessen auf eigentlich harmlose Erreger zu reagieren. [Meyer, 2012]

Auch aus der großen KiGGS-Studie, in den Jahren 2003-2006 vom RKI durchgeführt, wird deutlich, dass ungeimpfte Kinder und Jugendliche seltener krank sind als geimpfte, selbst wenn uns die vier Autoren der Studie, von denen zwei erhebliche Interessenkonflikte anmelden mussten, weismachen wollen, dass die Prävalenz für allergische Krankheiten und unspezifische Infektionen nicht vom Impfstatus abhänge. [Schmitz et al., 2011] Schon 1988 stellte eine israelische Studie fest, dass im Folgemonat nach einer Diphterie-Pertussis-Tetanus-Impfung die geimpften Kinder signifikant mehr infektiöse Erkrankungen durchmachen als im Monat vor der Impfung. [Jaber et al., 1988] Eine Studie aus dem Jahre 2005 kommt zu dem Ergebnis, dass Eltern, die es ablehnen, ihre Kinder impfen zu lassen, deutlich seltener von Asthma und Allergien bei ihren ungeimpften Kindern zu berichten wissen im Vergleich zu Eltern geimpfter Kinder. [Enriquez et al., 2005] Auch eine große britische Studie erkannte auf einen Zusammenhang zwischen Impfungen und allergischen Krankheiten, beeilte sich aber, diesen Zusammenhang mit Erhebungsverzerrungen zu erklären. [McKeever et al., 2004] Die große Guinea-Bissau-Langzeitstudie kam zwar zu dem Ergebnis, dass die Tuberkuloseimpfung (BCG) und die Masernimpfung mit besseren Überlebenschancen gegenüber Nicht-Geimpften assoziiert waren. [Kristensen et al., 2000] Doch das Sterberisiko bei Kindern, die gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis geimpft worden waren, war mit 10,5% mehr als doppelt so hoch wie das der ungeimpften Kinder mit 4,7%. Es gäbe noch eine Reihe weiterer Studien zum Thema, doch hier sei nur noch die Salzburger-Elternstudie angeführt, die signifikante Unterschiede zwischen geimpften und ungeimpften Kindern zugunsten der Letzteren feststellen konnte, vor allem was Asthma, Allergien und Teilleistungsstörungen angeht. [Cortiel, 2013]



Der Nutzen von Impfungen soll nicht generell in Frage gestellt werden. Ein überwiegender Teil der Bevölkerung profitiert wahrscheinlich von einer Immunisierung. Doch fragt man sich, warum sich bei einer vorgeblich so ergebnisoffenen Forschung besorgte Eltern, die keinen wissenschaftlichen Hintergrund haben, aufgerufen fühlen, solche Erhebungen wie die Salzburger-Elternstudie durchzuführen. Könnte es vielleicht daran liegen, dass Impfkritik bei uns gänzlich unerwünscht ist, was sich nicht nur in der mangelnden Erforschung, Dokumentation und Anerkennung von Impfschäden, sondern auch in der unkritischen Berichterstattung der Mainstream-Medien widerspiegelt? Dabei wird es höchste Zeit, eine derart rigorose Impfpolitik, die sich rücksichtslos über die Interessen der Menschen mit einem angegriffenen Immunsystem hinwegsetzt, in Frage zu stellen.

Mit den Flüchtlingen soll sich nun wieder eine „eher gefährdete als gefährdende Gruppe“ dem deutschen Impfdiktat beugen. [SPIEGEL, 9/2015] Ohne Zweifel sind diese Menschen nicht nur gefährdet durch unzeitgemäß verabreichte Impfungen, sondern vor allem auch durch das Zusammenleben auf engem Raum, was das Infektionsrisiko erhöht. Doch weil bislang kaum Infektionen gemeldet wurden (aus Gründen, die eine weitere Erforschung verdienen!), sollte es vielleicht eine Überlegung wert sein, den Asylsuchenden inklusive ihren Betreuern zunächst einmal auf andere Weise zu helfen als den Impfherstellern weitere Millionen in den Rachen zu werfen. Beispielsweise mit einer besonders vitaminreichen Kost, um das Immunsystem zu stärken.

Denn die meisten Infektionskrankheiten wurden nicht durch Impfungen, sondern durch die Verbesserung von Ernährungs-, Arbeits- und zum Teil auch Hygienebedingungen eingedämmt und ihr Verlauf abgemildert. [Hof, Dörries, 2014; Goldstein, 2014; RKI, 1/2015] Das ist deutlich am rasanten Rückgang der Inzidenz sowie der Sterblichkeitsrate dieser Krankheiten teils schon Jahre vor Einführung der jeweiligen Impfstoffe abzulesen. [Obomsawin, 2009] Gute hygienische Bedingungen zu garantieren, sauberes Wasser zur Verfügung zu stellen und ausreichend vitaminreiche Kost auszugeben, sollte für ein so wohlhabendes Land wie Deutschland kein Problem darstellen. Sobald die Asylsuchenden sich von der Flucht erholt und sie und ihre Helfer gründlich untersucht und für impftauglich befunden worden sind, könnten sie dann, wenn sie das möchten, fehlende Impfungen nachholen oder ihren Impfschutz vervollständigen. So sähe eine angemessene Willkommenskultur aus und zugleich eine Wertschätzung der Menschen, die unermüdlich im Einsatz für die Belange der Asylsuchenden sind.

Mehr zum Thema Impfungen sowie zum Thema Myalgische Enzephalomyelitis und Vakzine in meinem Buch.

Literatur, chronologisch:


Ute Eppinger Robert Koch-Institut publiziert Liste: Diese Impfungen sollten Flüchtlinge auf jeden Fall erhalten, Medscape Deutschland vom 14.10.2015
FAZ vom 13.10.2015
Robert Koch Institut: Epidemiologisches Bulletin Nr. 41 vom 12.10.2015 Konzept zur Umsetzung frühzeitiger Impfungen bei Asylsuchenden nach Ankunft in Deutschland
So steht es um den Gesundheitszustand der Flüchtlinge, RP-online vom 22.9.2015
"Die Flüchtlinge sind übernormal gesunde Menschen", DIE WELT vom 31.12.2015  
Neil A Harrison, Mara Cercignani, Valerie Voon and Hugo D Critchley Effects of Inflammation on Hippocampus and Substantia Nigra Responses to Novelty in Healthy Human Participants, 2014, Neuropsychopharmacology 2015
Medizinische Versorgung von Flüchtlingen: Was Ärztinnen und Ärzte wissen sollten, Hartmannbund September 2015
Katharina Kluin Flüchtlinge warten bis zu neun Wochen auf Erstuntersuchung, stern vom 7.11.2015
WESTPOL: Medizinische Untersuchung von Flüchtlingen in NRW mangelhaft, WDR vom 5.9.2015
Flüchtlinge werden nicht untersucht, WAZ vom 5.9.2014
Mediziner-Mangel in Flüchtlingsheimen Ärzte "erschöpft bis zum Gehtnichtmehr", Hessenschau vom 12.8.2015
Tausende Flüchtlinge warten noch auf Erstuntersuchung, Freie Presse vom 1.10.2015
Ute Eppinger Die medizinische Versorgung von Flüchtlingen krankt an vielen Stellen – Ärzte engagieren sich, Medscape Deutschland vom 30.6.2015
Herwig Kollaritsch, Gerhard Wiedermann Leitfaden für Schutzimpfungen, Springer-Verlag 2013, S. 121
PD Dr. Martin Hartmann Behandlung von Asyl-Suchenden: Welche Infektions-Krankheiten ausgeschlossen werden sollten, Medscape Deutschland vom 12.10.2015
Robert Koch Institut: Epidemiologisches Bulletin Nr. 27 vom 6.7.2015 HIV-Diagnosen und AIDS-Erkrankungen in Deutschland Bericht zur Entwicklung im Jahr 2014  
Frederick M. Hecht, Annie Luetkemeyer Safety of Vaccinations Effect of Vaccines on HIV Disease Progression, HIV InSite, University of California  
J. A. Rump HIV und das Immunsystem, HIV-Leitfaden, o.J.
Impfung am Flughafen: Last-Minute-Schutz für Tropenreisende, SPIEGEL online vom 15.12.2011
Louise Brinth, Kirsten Pors, Anna Alexandra Grube Hoppe, Iman Badreldin and Jesper Mehlsen Is Chronic Fatigue Syndrome/Myalgic Encephalomyelitis a Relevant Diagnosis in Patients with Suspected Side Effects to Human Papilloma Virus Vaccine? Int J Vaccines Vaccin 2015
Agmon-Levin N, Zafrir Y, Kivity S, Balofsky A, Amital H, Shoenfeld Y. Chronic fatigue syndrome
and fibromyalgia following immunization with the hepatitis B vaccine: another angle of the 'autoimmune (auto-inflammatory) syndrome induced by adjuvants' (ASIA). Immunol Res. 2014
Colafrancesco S, Perricone C, Tomljenovic L, Shoenfeld Y. Human papilloma virus vaccine and
primary ovarian failure: another facet of the autoimmune/inflammatory syndrome induced by
adjuvants. Am J Reprod Immunol. 2013
Carruthers BM, van de Sande MI et al. MYALGIC ENCEPHALOMYELITIS Adult & Paediatric: International Consensus Primer for Medical Practitioners, 2012,  
England, Christina Secret Papers Reveal Funding Refused to Researchers Looking Into
Link Between Chronic Fatigue Syndrome and Vaccinations
Jones, Doris M. ME and Vaccinations, YOGA & HEALTH March 1997,
Jung, männlich – Flüchtling, Südwestpresse vom 1.07.2015
Alfons Meyer Schadet Impfen dem Immunsystem? Eine wissenschaftlich, [sic!] kritische Recherche, zaenmagazin 2/2012
Roma Schmitz, Christina Poethko-Müller, Sabine Reiter and Martin Schlaud Vaccination Status and Health in Children and Adolescents - Findings of the German Health Interview and Examination Survey for Children and Adolescents (KiGGS) Dtsch Arztebl Int. 2011
Lutfi Jaber, Mordechai Shohat, Marc Mimouni Infectious Episodes Following Diphtheria-Pertussis-Tetanus Vaccination - A Preliminary Observation in Infants, PEDIATR  1988
Enriquez R et al. The relationship between vaccine refusal and self-report of atopic disease in children. J Allergy Clin Immunol. 2005
Tricia M. McKeever, Sarah A. Lewis, Chris Smith, and Richard Hubbard Vaccination and Allergic Disease: A Birth Cohort Study, Am J Public Health. 2004
Ines Kristensen, Peter Aaby, Henrik Jensen Routine vaccinations and child survival: follow up study in Guinea-Bissau, West Africa, BMJ 2000
Petra Cortiel Fragebogen zu meinem ungeimpften Kind - Auswertung Durchführung der Fragebogenaktion: Impformation Salzburg – Zeitraum: 1. März 2001 bis 1. Jänner 2013
Krankheiten in Flüchtlingslagern: "Kein Anlass zur Sorge", SPIEGEL online vom 13.9.2015
Herbert Hof, Rüdiger Dörries Medizinische Mikrobiologie, Georg Thieme Verlag 2014, S. 684
Michelle Goldstein 10 Reasons Not To Vaccinate, Vactruth vom 12.12.2014
Robert Koch Institut: Antworten des Robert Koch Instituts und des Paul-Ehrlich-Instituts zu den 20 häufigsten Einwänden gegen das Impfen, Stand: 7.1.2015
Raymond Obomsawin Immunization Graphs: Natural Infectious Disease Declines; Immunization Effectiveness; and Immunization Dangers, 2009

Bildnachweise:

Federico Barroci,Äneas Flucht aus Troja, www.commons.wikimedia.org
Honoré Daumier, Die Flüchtlinge, www.commons.wikimedia.org
Felix Nussbaum, Le réfugiéwww.commons.wikimedia.org
William Turner, Shipwreck, www.commons.wikimedia.org  
Honoré Daumier, Die Last, www.commons.wikimedia.org
Théodore Géricault, Das Floß der Medusawww.commons.wikimedia.org

Katharina Voss, Copyright 2015 

Donnerstag, 19. November 2015

Was Sie schon immer über ME wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten




In der Dezember-Ausgabe von Medical Hypotheses ist ein gut recherchierter Artikel von Rosemary A. Underhill erschienen, in dem sie ihre Hypothese vertritt, dass es sich bei der Myalgischen Enzephalomyelitis* um eine infektiöse Krankheit handelt. Underhill – eine ausgebildete Ärztin, Chirurgin, Geburtshelferin und unabhängige Wissenschaftlerin – postuliert, der bislang unentdeckte Krankheitserreger könne im alltäglichen sozialen Kontakt übertragen werden, er persistiere im Patienten, die Anfälligkeit für die Krankheit werde durch Wirtsfaktoren bestimmt und es gebe eine Population Gesunder, die dieses Pathogen übertragen und verbreiten könnten.

Sie gründet ihre Hypothese vor allem auf das Auftreten von epidemischen und Cluster-Ausbrüchen, die ihrer Ansicht nach womöglich dann auftreten, wenn die Virulenz des Erregers erhöht oder die Herdimmunität der Population verringert ist. (Anm. d. A.: Letzteres wäre vorstellbar in abgelegenen Regionen, die bislang noch keinen Kontakt mit dem Pathogen hatten. Es wären aber auch Ereignisse denkbar, die die Immunabwehr vorübergehend schwächen, z.B. eine Massenimpfung oder eine Grippewelle oder auch eine Umweltgiftstoffbelastung.) Dass es sich bei den epidemischen Ausbrüchen und den sporadischen um unterschiedliche Manifestationen derselben Krankheit handelt, belegt Underhill durch das Vorhandensein sporadischer Fälle im Großraum der von einer Epidemie betroffenen Gemeinden, und zwar sowohl vor als auch nach den Ausbrüchen.

Der Verlauf der Krankheit, vor allem sein Beginn mit einer grippeähnlichen Erkrankung bzw. einem Infekt bei der überwiegenden Mehrzahl der Erkrankten, ist für eine Infektionskrankheit, die bei einigen Patienten chronisch werden kann, charakteristisch. Die Chronizität spricht dafür, dass der Erreger persistiert. Die initialen grippeähnlichen Symptome bei den während einer Epidemie Erkrankten deutet Underhill als mögliche Vorboten einer ME-Erkrankung, während es bei den sporadischen Fällen auch denkbar wäre, dass die vorangegangenen oberen Atemwegsinfekte oder auch gastrointestinalen Symptome durch andere Infektionen verursacht werden könnten, die dann in der Folge den Ausbruch einer ME-Erkrankung triggern. Eine Minderheit sowohl der epidemischen als auch der sporadischen Fälle berichtet jedoch von einem schleichenden Beginn.



Die Immunantwort der Patienten schwankt, laut Underhill, doch die wenigen konsistenten Immunantworten ähneln denen von Patienten mit anderen Infektionskrankheiten, wie z.B. Tuberkulose, HIV, AIDS, Masern, Windpocken, Gürtelrose, Epstein-Barr-Virusinfektion etc. Als mögliche Krankheitsursache wurde u.a. z.B. eine gestörte Immunantwort angenommen. Doch wenn man ME als infektiöse Krankheit betrachte, zeigten die Veränderungen des Immunsystems eine funktionelle Reaktion auf einen krankmachenden Erreger, schreibt Underhill.

Auch die milden Anzeichen für Autoimmunität, die bei ME-Patienten gefunden wurden, bedeuten nach Underhill nicht, dass Autoimmunität die zugrundeliegende Ursache der Krankheit ist. Denn autoimmune Anzeichen findet man auch bei anderen Infektionskrankheiten. Noch viele Jahre nach Krankheitsbeginn könne man eine generalisierte Aktivierung des Immunsystems verbunden mit klinischen Symptomen finden, was für ein Unvermögen den Erreger zu eliminieren spreche.

Die gescheiterten Versuche, ein verursachendes Pathogen für die Krankheit zu finden, habe zu der sogenannten hit and run-Theorie geführt, erläutert Underhill. Diese Theorie besage, dass ein infektiöses Agens die Krankheit auslöse, aber mit dem Beginn der typischen Symptomatik wieder verschwinde und ein dysfunktionales Immunsystem und/oder Autoimmunität zurücklasse. Doch das Auftreten von Sekundärfällen während der Epidemien und die erhöhte Prävalenz genetisch nicht verwandter naher Patientenkontakte spreche gegen diese Theorie. Das Immunsystem sei antigengesteuert und fortdauernde klinische Symptome im Verbund mit persistierenden Veränderungen des Immunsystems seien ein Kennzeichen für Krankheitsaktivität und deuteten auf einen persistierenden Erreger hin. Die hit and run-Theorie bleibe rein spekulativ, so Underhill, solange das verursachende Pathogen nicht gefunden sei und ohne Evidenz, dass es bei den ME-Patienten ausgeschaltet sei.

Immundysfunktion, Autoimmunität, Stoffwechselstörungen und psychische Beeinträchtigungen bei den Patienten hätten zu Hypothesen geführt, die diese Phänomene als Ursachen für die Krankheit ausgemacht haben wollen. Underhills alternative Hypothese beschreibt diese Phänomene jedoch als pathophysiologische Antworten auf eine Infektionskrankheit.

Während die chronische Phase dieser ansteckenden Krankheit wohl mit keiner besonderen Übertragungsgefahr verbunden sei, gebe es Anzeichen dafür, dass die Krankheit während der Inkubationszeit und womöglich auch während der akuten Phase ansteckend ist. Das gilt zumindest für etliche der dokumentierten Ausbrüche, bei denen teils sogar direkte Belege für die horizontale Übertragbarkeit gesammelt wurden. Aber auch der Kontakt mit einem rückfälligen ME-Patienten hat offenbar in mehren Fällen zu einer Übertragung der Krankheit geführt, wie Underhill zu berichten weiß. (Anm. d. A.: Dieses Studienergebnis aus dem Jahre 1957 deckt sich mit den Beobachtungen heutiger Familiencluster-Patienten.) Ein Patient, der eine schwere Zustandsverschlechterung erfährt, kann also womöglich zu Beginn seines Einbruchs wieder infektiös werden und den persistierenden Erreger verbreiten. Als wahrscheinlicher Übertragungsweg gelte die Übertragung über die Atemwege bzw. eine Übertragung durch die Luft. Die Inkubationszeit wird auf 4-10 Tage geschätzt.

Epidemische Ausbrüche und Cluster traten und treten vor allem in Schulen, Hospitälern, Gemeinden und Familien auf, überall dort, wo Menschen in engen persönlichen Kontakt mit Erkrankten und (gesunden) Überträgern kommen. Bei den epidemischen Ausbrüchen in Hospitälern hatten die Krankenschwestern das höchste Erkrankungsrisiko, aber auch anderes medizinisches Personal hatte ein erhöhtes Risiko. Vermehrter Kontakt mit betroffenen Patienten ist ebenfalls mit einem erhöhten Risiko assoziiert. Bei nicht genetisch Verwandten, die in einem gemeinsamen Haushalt leben (Eheleuten/Partnern), liegt das Risiko ebenfalls an ME zu erkranken bei 3,2%, laut Underhill, und ist damit deutlich erhöht gegenüber der gemeindebasierten Prävalenz von 0,24-0,42% und auch gegenüber der Prävalenz in der medizinischen Versorgung, die auf 0,11% geschätzt wurde. Auch dieses Forschungsergebnis spricht für ein übertragbares Agens.



Genetisch Verwandte, die mit einem ME-Patienten in einem gemeinsamen Haushalt leben, haben ein noch höheres Risiko, an ME zu erkranken. So beträgt die Prävalenzrate für den Nachwuchs 5,1%. Als besondere Risikofaktoren, die den Ausbruch der Erkrankung begünstigen können, gelten vor allem genetische Verwandtschaft mit einem Erkrankten, das Leben in einem gemeinsamen Haushalt bzw. in engem Kontakt mit einem Betroffenen, die Zugehörigkeit zu zwei bestimmten Altergruppen (11-19 und 30-39 Jahre), weibliches Geschlecht, ein hohes körperliches Aktivitätslevel (deshalb, so wird vermutet, erkrankten bei den Ausbrüchen in den Hospitälern kaum bettlägerige Patienten, dafür jedoch das versorgende Personal!), jüngste Vorerkrankungen, Giftstoffexposition, schwere Traumata, außergewöhnliche Stressbelastung und berufsbedingte Exposition von Personen, die in Gesundheitsberufen arbeiten. Die genannten Faktoren verursachen nicht ME, können jedoch ein erhöhtes Risiko für einen Krankheitsausbruch darstellen bzw. ihn triggern.

Die meisten Langzeit-Patientenkontakte scheinen jedoch immun gegen die Krankheit zu sein. Dennoch wurde bei einem Cluster-Ausbruch in einem Orchester festgestellt, dass gesunde enge Kontaktpersonen der Patienten ähnliche Veränderungen des Immunsystems zeigten wie die Erkrankten. Bei anderen epidemischen Ausbrüchen wurde von subklinischen Infektionen und einer Übertragung durch stille Träger berichtet. So steckten gesunde Kontakte ME-Kranker ihre eigenen Familienmitglieder an, ohne selbst zu erkranken. Die Familienmitglieder hatten selbst keinerlei Kontakt zu ME-Patienten, so Underhill. Eine andere Studie verglich gesunde Kontrollen einer Region, in der ein Cluster-Ausbruch stattgefunden hatte, mit denen einer Region, wo es keinen Ausbruch gegeben hatte und stellte dabei immunologische Unterschiede fest. Anzahl und Typen aktivierter T-Zellen gesunder Kontrollen in der Ausbruchsregion ähnelten mehr denen von ME-Fällen als denen der Kontrollen der verschont gebliebenen Region.

Darüber hinaus wurde eine statistisch signifikante positive Korrelation zwischen CD38-Aktivierungsmarkern bei Patienten und ihren nicht verwandten engen Familienkontakten gefunden. Eine weitere Studie berichtet von gesunden Kontakten ME-Kranker, deren mittlere 37/80 kDa RNase L-Ratio zwischen denen der Patienten und denen von Kontrollen ohne Kontakt zu ME-Patienten liegt. Eine andere Arbeit befasste sich mit einer 20-köpfigen Familie, von denen 8 erkrankt waren. Bei 6 der 8 Patienten und 4 der 12 nicht betroffenen Familienmitglieder war die lytische NK-Zellaktivität signifikant herabgesetzt gegenüber der von gleichzeitig getesteten normalen Kontrollen. Die Ergebnisse der 4 nicht-betroffenen Familienmitglieder lagen zwischen denen der Patienten und denen der Kontrollen.

Diese Daten, so schreibt Underhill, legen nahe, dass die gesunden Patientenkontakte dem gleichen Pathogen ausgesetzt gewesen sein könnten wie die Erkrankten, und dass sie eine subklinische Infektion durchmachten bzw. durchgemacht hatten. Einige von ihnen könnten stille Überträger sein. Eine Studie, die eine große Patientenkohorte untersuchte, ergab, dass 6,5% der Patienten die Krankheit ein paar Tage nach einer Bluttransfusion entwickelte. Underhill schließt daraus, dass möglicherweise einige gesunde Blutspender stille Überträger eines Erregers sein könnten, der eine ME-Erkrankung auslöst.

Gesunde stille Träger des (bislang unentdeckten) Erregers, die Kontakt mit ME-Patienten haben oder hatten, bilden nach Underhill ein Reservoir von potenziellen Überträgern der Krankheit. (Anm. d. A.: Die stillen Überträger wissen häufig nicht einmal, dass sie Kontakt mit einem ME-Kranken hatten und infiziert wurden. Viele ME-Kranke wissen ja nicht einmal, woran sie überhaupt erkrankt sind, und bekommen keine adäquate Diagnose, sondern werden mit psychiatrischen Diagnosen abgefertigt.) Auf diese Weise können sich Personen mit ME infizieren und daran erkranken, ohne jemals mit einem ME-Kranken direkt in Kontakt gekommen zu sein.



Underhills Infektionshypothese impliziert ihre Empfehlung für Gesundheitsdienstleister und Krankenhausmitarbeiter, Handschuhe zu tragen und die üblichen Sicherheitsvorkehrungen einzuhalten, wenn sie mit Körperflüssigkeiten oder Gewebe ME-Kranker arbeiten, um einer Verbreitung der Infektion vorzubeugen. Den Patienten rät sie, mit neuen Partnern nur Safe Sex zu praktizieren.

Darüber hinaus fordert Underhill zu einer Fokussierung der zukünftigen Forschung auf die Identifikation eines verursachenden Pathogens auf, das ein neues, aber auch ein bekanntes sein könnte. Das verursachende Pathogen könne womöglich schwer zu kultivieren sein, könne neurotrop und im alltäglichen Umgang übertragbar sein sowie im Gewebe persistieren, wenn es nicht im Blut zu finden sei. Außerdem sei es eventuell mit einer Reduktion der NK-Zellaktivität und zellvermittelter Immunität assoziiert und fähig, latent zu werden und wohl auch die Replikation des Poliovirus zu verhindern. (Mehrere epidemische ME-Ausbrüche ereigneten sich parallel zu Poliomyelitis-Epidemien. Dabei wurde beobachtet, dass das Einsetzen des ME-Ausbruchs die Polio-Epidemie verdrängte.) Die klinische, immunologische und epidemiologische Evidenz deute stark darauf hin, dass es sich bei ME um eine infektiöse Krankheit handele, doch die Bestätigung dieser Hypothese erfordere die Identifikation eines solchen Pathogens.

Ein solcher Erreger ist jedoch sehr viel leichter zu finden, wenn er sich aktiv vermehrt. Das ist für gewöhnlich zu Beginn einer Erkrankung der Fall, während eines schweren Rückfalls und vielleicht auch bei extrem schwer erkrankten Patienten. Eine frühe Diagnose ist aber nur bei epidemischen Ausbrüchen möglich. Deshalb müssten Ärzte und Gesundheitsbehörden über die Symptommuster der Krankheit und die Charakteristiken der Cluster-Ausbrüche unterrichtet werden, so Underhills Vorschlag.

Die Suche nach dem verursachenden Erreger solle die gesunden Patientenkontakte, die ähnliche Veränderungen des Immunsystems aufweisen wie die Erkrankten, mit einschließen, schreibt Underhill. Denn diese gesunden Patientenkontakte könnten ebenfalls Träger des verursachenden Pathogens sein. Außerdem sei die Wahrscheinlichkeit, dass sie Sekundärerreger und aktivierte latente Viren beherbergten, die mit dem verursachenden Pathogen verwechselt werden könnten, geringer. Überdies könne man an ihnen studieren, welche Immunantworten mit Symptomen korreliert seien und welche nicht.

Der Frage, ob die stillen Träger im Laufe ihres Lebens aufgrund ihres potenziellen Erregers Erkrankungen entwickeln könnten, die überhäufig aus dem nahen Umfeld der ME-Kranken berichtet werden, wie z.B. Krebs, Autoimmunerkrankungen, neurodegenerative Krankheiten oder Herzkrankheiten, geht Rosemary Underhill in ihrem Artikel leider nicht nach.

Die Fokussierung der Forschung auf den Nachweis eines verursachenden Pathogens, wie Underhill sie anmahnt, hätte vermutlich nur dann einen Sinn, wenn auch die Retrovirenforschung im Zusammenhang mit ME nicht länger tabuisiert würde. Es erhebt sich allerdings generell die Frage, ob man die Forschung auf ein verursachendes Agens konzentrieren sollte. Denn die verläuft wahrscheinlich ohnehin nur wieder im Sande, wenn – wie so oft schon – mit Scheuklappenmentalität geforscht wird. Vielleicht sollte man sich lieber auf Behandlungsstudien kaprizieren, so wie es die Norweger Øystein Fluge und Olav Mella uns mit ihren Rituximab- und Cyclophosphamid-Studien vormachen. Dabei sollten auch klinische Studien mit antiretroviralen Medikamenten nicht unberücksichtigt bleiben, wie sie für MS-Kranke [1] und Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose [2] bereits angelaufen sind, aber selbstverständlich auch Ampligenstudien, Studien zu antiviraler Medikation sowie zur Immunadsorption.

Rosemary Underhill hat eine Fülle von Belegen für ihre Infektionshypothese zusammengetragen, die eine erdrückende Beweislast insbesondere gegen psychopathologisierende Verursachungstheorien repräsentieren. Dieses Verdienst kann der Autorin gar nicht hoch genug angerechnet werden. Ihr Artikel liefert insgesamt schlüssige Begründungen für eine durch infektiöse Erreger induzierte Verursachung von ME, eine Hypothese, vor der das Gros der biomedizinischen ME-Forscher derzeit noch zurückscheut. Die Mainstream-Forschung sowieso!



Zum guten Schluss seien noch ein paar Anmerkungen erlaubt: Die ME-Kranken sollten sich zu ihrer Entlastung klarmachen, dass nur ein kleiner Prozentsatz ihrer nahen Kontakte empfänglich für die Entwicklung einer ME-Symptomatik ist, und dass sie keine Schuld trifft, wenn sie das Virus weitergeben. Zum einen ist eine Übertragung bei einem mutmaßlich durch die Luft übertragenen Erreger kaum zu verhindern, zum anderen gibt es hierzulande keine Erkenntnisse zur Infektiosität der Krankheit. Außerdem werden die meisten ME-Patienten gar nicht oder aber erst viel zu spät richtig diagnostiziert, zu einem Zeitpunkt, wo sie längst nicht mehr ansteckend sind und das Virus möglicherweise bereits unwissentlich weiterverbreitet haben.

Im Übrigen ist der Umgang mit immunkompetenten Gesunden, die tagtäglich in Kontakt mit zahllosen Viren und Bakterien kommen und diesen mühelos bewältigen, für ME-Kranke vermutlich sehr viel riskanter als umgekehrt die Gefahr für Gesunde, sich bei ME-Kranken anzustecken. Denn da ME-Patienten immundefizient sind, ist jeder Kontakt mit einem zusätzlichen Erreger für ihr ohnehin so strapaziertes Immunsystem stets aufs Neue eine Herausforderung.

Auch viele Ärzte halten ME nicht für übertragbar oder ansteckend, teils mangels Wissen um die Epidemien, teils mangels Verknüpfung derselben mit den inzwischen häufiger anzutreffenden sporadischen Fällen, teils, weil sie nicht darin geschult sind, Cluster zu erkennen und teils, weil sie der unerschütterlichen Meinung anhängen, ausschließlich genetische Faktoren seien für die Familiencluster verantwortlich. Doch die meisten Ärzte halten ME immer noch deshalb für keine ansteckende Krankheit, weil sie der irrigen Auffassung sind, es handele sich um eine psychische oder psychosomatische oder sogar nur um eine eingebildete Krankheit.

Mehr zum Thema Ansteckung, Übertragungswege und in Frage kommende Pathogene in meinem Buch.

*Underhill benutzt das Hybrid „ME/CFS“ in ihrem Artikel.



Literatur:

Underhill, Rosemary A. Myalgic encephalomyelitis, chronic fatigue syndrome: An infectious disease, Medical Hypotheses 85 (2015), 765-773

Underhill, Rosemary A., O`Gorman, Ruth Prevalence of Chronic Fatigue Syndrome and Chronic Fatigue Within Families of CFS Patients, Journal of Chronic Fatigue Syndrome 2006, Vol. 13,
No. 1, Pages 3-13

Bildnachweise:

Lovis Corinth, Vater Franz Heinrich Corinth auf dem Krankenlager, www.zeno.org
Pieter Bruegel, d. Ä., Die Kinderspiele, www.commons.wikimedia.org
Pieter Bruegel, d. Ä., Die Kinderspiele, Detail, www.zeno.org
Pieter Bruegel, d. Ä., Der Bauerntanz,  www.commons.wikimedia.org


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