Im
Vorweihnachtstrubel steht das ganze Land Kopf. Die Leute sind im Einkaufsrausch, um Wunschlisten abzuarbeiten, im Dekofieber, um
ihr Heim festlich herauszuputzen, im Terminstress, um Weihnachtsfeiern von
Kindergarten, Schule, Firma und Verein zu absolvieren, und im Back- und
Kochwahn, um in einer Aufwallung christlicher Nächstenliebe auch noch die mäklige Verwandtschaft über die Feiertage zufriedenstellend verköstigen zu können. Hektische Betriebsamkeit
paart sich mit der Vorfreude auf ein paar nette, friedliche Tage mit der
Familie. Die Menschen scheinen sich in der Vorweihnachtszeit für kurze Zeit im Ausnahmezustand
zu befinden, selbst die, die sich bewusst dem Konsumterror und allen
gesellschaftlichen Zwängen verweigern. Wenn dann am Nachmittag des 24.
urplötzlich eine geradezu geisterhafte Stille eintritt, die Straßen leergefegt
sind, weil die Familien sich um ihren im Lichterglanz erstrahlenden Tannenbaum versammeln, und
die Bescherung beginnt, löst der eine Ausnahmezustand den anderen ab. Doch Letzterer ist nur von sehr kurzer Dauer.
Bei
ME-Kranken herrscht eigentlich das ganze Jahr über Ausnahmezustand, nicht nur
zur Weihnachtszeit. Und es ist ein Ausnahmezustand ganz unfreiwilliger Art: Denn
man lässt sie nicht zur Ruhe kommen – egal wie krank sie sind. Fortwährend
müssen sie um eine adäquate medizinische und finanzielle Versorgung und um
soziale Anerkennung kämpfen. Andauernd müssen sie um wenigstens ein Minimum an familiärem
Halt und emotionaler Unterstützung buhlen. Pausenlos müssen sie darum bangen,
überhaupt als Schwerkranke wahr- und ernstgenommen zu werden. Unentwegt
begleitet sie die Sorge, dass sich ihre gesundheitliche Situation noch weiter
verschlechtern könnte. Immerzu leben sie in der Furcht, wegen Begleiterkrankungen
oder Komplikationen ins Krankenhaus eingewiesen zu werden, wo man ihre
Grunderkrankung nicht kennt und wo auch keine Rücksicht auf ihre spezielle
Symptomatik genommen wird. Permanent belastet sie die Vorstellung, ins
Pflegeheim abgeschoben zu werden, weil sie niemanden haben, der sie angemessen versorgen
könnte. Ohne Unterlass müssen sie befürchten, von uninformierten Ärzten,
Pflegern, Bekannten, Freunden und Verwandten psychopathologisiert und womöglich
in die Psychiatrie zwangseingewiesen zu werden, wie es schon unzähligen Mitpatienten
widerfahren ist.
Zusätzlich
zu diesen Dauerkriegsschauplätzen trägt ganz wesentlich die neurologische Symptomatik
der ME-Kranken zur Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands bei. Denn ihre sensorischen Überempfindlichkeiten verhindern, dass sie wie andere
Behinderte und chronisch Kranke am Leben partizipieren können. Sinnesempfindungen wie visuelle, auditive, taktile, olfaktorische und
gustatorische Wahrnehmungen können den ME-Patienten derart überwältigen, dass
er gezwungen ist, sich häufig zurückzuziehen oder sogar in völliger Isolation zu
leben. Auch das anhaltende
Krankheitsgefühl, das von der grippeähnlichen Symptomatik, den Schmerzen und der überwältigenden Erschöpfung herrührt,
sowie die pathologische Muskelerschöpfbarkeit und die Zustandsverschlechterung
nach oftmals nur geringfügiger Belastung verhindern seine Teilhabe am Leben.
Die
meisten chronischen Krankheiten beeinträchtigen das Leben mehr oder weniger
stark, aber einige sind nur sehr schwer erträglich und gehören, wenn sie ein
bestimmtes Stadium erreicht haben, zu den entsetzlichsten Krankheiten, die man
sich als Gesunder überhaupt nur ausmalen kann. Myalgische Enzephalomyelitis zählt
ohne Zweifel dazu.
Wenn
ich Gesunden oder auch Kranken vom Leben meiner beiden Töchter berichte oder
von dem, was davon übrig geblieben ist, können die meisten kaum begreifen, dass
sie überhaupt noch einen Lebenswillen besitzen. „Wie halten sie das nur aus?
Wie kann man so etwas aushalten? Ich könnte das nicht aushalten“, bekomme ich immer
wieder zu hören.
Ja,
wie kann man so etwas aushalten? Eine Krankheit, die eine 22-Jährige und eine
15-Jährige nötigt, Tag und Nacht meist in völliger Dunkelheit vor sich
hinzuvegetieren? Eine Krankheit, die sie zwingt, weitgehend ohne Gesellschaft,
ohne Gespräche (das Notwendigste kommunizieren sie meist über Handzeichen),
ohne Umarmungen (wegen der Berührungsempfindlichkeit), ohne Trostworte und sogar
ganz ohne jegliche Beschäftigung und Ablenkung auskommen zu müssen? Einen
Zustand, der nur durch die Aufnahme von Mahlzeiten, die Verrichtung der
Notdurft und durch Hygienemaßnahmen unterbrochen wird?
Ich
weiß nicht, wie man das aushalten kann.
„Und
wie halten Sie das eigentlich aus?“,
werde ich dann als nächstes gefragt. Die Frage kann ich kaum beantworten. Ich murmele
dann für gewöhnlich etwas davon, dass mir ja gar nichts anderes übrigbliebe als
es auszuhalten. Was mich aber am meisten quält, ist der Umstand, dass mir kaum
Möglichkeiten verblieben sind, Trost zu spenden. Ich sehne mich danach, meine
Töchter in den Arm nehmen zu können und sie zu trösten. Ich sehne mich danach,
mich mit ihnen zu unterhalten und von ihnen zu erfahren, was in ihnen in diesen
dauerhaft dunklen Stunden vorgeht. Ich ersehne den Tag herbei, an dem die
beiden wieder einmal die Kraft haben werden, sich „besuchen“ und miteinander
reden zu können. Das war im letzten halben Jahr leider nur einmal und nicht
ohne weitere gesundheitliche Einbußen möglich – obwohl sie doch Wand an Wand
liegen.
Aber
vor allem sehne ich mich danach, ihre Hoffnung auf eine wirksame Behandlung mit
neuen, überzeugenden Forschungsergebnissen bestätigen zu können. Nicht, dass
ich das nicht andauernd täte. Was bleibt mir auch anderes übrig als Mutter?
Aber ich würde ihre Hoffnungen gerne guten
Gewissens nähren können. Denn noch rede ich sozusagen ins Blaue hinein, mit
bleischwerem Herzen. Es ist bislang fraglich, ob es jemals eine wirksame
Behandlung auch für die Schwerkranken unter den ME-Patienten geben wird. Und es
tun sich weitere Fragen auf: Werden meine Töchter durchhalten, bis eine solche
Behandlung vielleicht tatsächlich eines Tages existiert? Werde ich die Pflege
meiner beiden Töchter bis dahin schaffen? Werden wir als Familie die Belastung
auf Dauer durchstehen können? Eine Belastung, die seit nunmehr schon
sechseinhalb Jahren anhält und die bislang mit jedem weiteren Jahr exponentiell
zugenommen hat?
ME-Patienten
und ihre Angehörigen haben also lange Weihnachtswunschlisten. Die meisten ihrer
Wünsche sind immaterieller Beschaffenheit. Sie stehen nicht auf den Listen ihrer
Mitmenschen, weil Wünsche in der Regel nur für etwas formuliert werden, woran
Mangel herrscht. Aber Gesunde nehmen all das, woran es ME-Kranken mangelt, für
selbstverständlich: Gesundheit, Gesellschaft, Familie, Freunde, Arbeit, Rente,
eine medizinische Versorgung, wenn man krank wird, und vieles mehr.
Viele
ME-Kranke werden versuchen, das Weihnachtsfest zumindest für ein paar Stunden
mit der Familie gemeinsam zu verbringen. Etliche werden an den Festtagen ganz
allein bleiben. Einige, wie wir beispielsweise, werden das Weihnachtsfest ganz
ausfallen lassen müssen. Ein Zusammensein wird nicht möglich sein und Geschenke
würden meine Töchter nur heillos überfordern. Die Geburtstagsgeschenke meiner
Älteren stapeln sich unausgepackt seit Ende Juni auf einem Stuhl in der Zimmerecke.
Sie hatte keine Kraft, sich feiern zu lassen, geschweige denn ihren Geburtstag
selbst feiern zu können. Kann sich jemand, der einen schwerkranken ME-Patienten
nicht aus nächster Nähe erlebt hat, das überhaupt vorstellen? Dass ein Mensch
so krank sein kann, dass ihn selbst ein einziges Geschenk bereits überanstrengt
und noch kränker macht?
Heiligabend
und die beiden Weihnachtstage werden sich bei uns also nicht von den 362 anderen
Tagen des Jahres unterscheiden. Nur das uns ohnehin ständig begleitende Gefühl,
vom Leben ausgeschlossen zu sein, im Ausnah-ME-zustand zu sein, wird an diesen
Tagen noch stärker und schmerzhafter zu spüren sein als sonst.
Ich
wünsche dennoch allen von Herzen ein frohes Fest!
Katharina
Voss, Copyright 2015