Montag, 7. März 2016

Das war`s! Mehr gibt`s nicht.


Entwickle eine Protestkultur. Es gibt eine Esskultur, wie es eine
Buch- und Filmkultur gibt – und es gibt eine Protestkultur. Sie
 besteht darin, unbequeme Fragen zu stellen, Zweifel zu äußern,
etwas zu verändern.

Nadja Tolokonnikowa, Anleitung für eine Revolution





„Meine Mutter war eine kluge Frau …“ – so hebt die Grisette Marion im Dialog mit Danton in dem Drama Dantons Tod an,  „ …; sie sagte mir immer, die Keuschheit sei eine schöne Tugend.“

Nun, was die Klugheit betrifft, so könnte ich das Gleiche über meine Mutter sagen. Sie war die Einzige unter ihren Schwestern, die studieren durfte und nur wegen der vehementen Fürsprache ihrer Lehrerin. Und dann gleich Physik, ein Fach, das von den seinerzeit insgesamt knapp 20.000 deutschen Studentinnen nur die allerwenigsten belegt und auch noch mit einem Diplom abgeschlossen haben dürften. Im Freiburger Hörsaal waren meine Mutter und ihre Studienfreundin jedenfalls die einzigen weiblichen Personen. Für ihre Studienwahl brauchte sie also auch eine gehörige Portion Mut.

Was aber die Keuschheit betrifft, so musste sich ihr Nachwuchs von ihr keine Vorhaltungen machen lassen, wenngleich sie selbst – generationstypisch – ihr Leben an der Seite eines einziges Mannes verbracht hat. Doch obwohl sie ihr berufliches Engagement stets dessen Karriere unterordnete, begann sie nach 10 Jahren Haushalt und Kindererziehung wieder zu arbeiten, und zwar ohne sich das damals nach Gesetzesregelung noch notwendige Einverständnis ihres Ehemanns einzuholen. Auch dazu gehörte Mut.

Es brauchte Mut und Zähigkeit, sich nach so langer Berufspause von hoffnungslos unterbezahlten Jobs in der wissenschaftlichen Recherche und Dokumentation, die sie heillos unterforderten, zu hoffnungslos unterbezahlten Jobs als Softwareentwicklerin hochzuarbeiten. Sie entwickelte Programme zur Digitalisierung von Schriften und der Automatisierung von gestickten Texten, die heute noch Relevanz besitzen, doch die Lorbeeren für ihre Arbeit heimste ihr Brötchengeber ein. Das alles begleitet von den krittelnden Kommentaren ihres Gatten, meines Vaters, der sie zwar bewunderte und sich gerne auf ihren messerscharfen Verstand und ihre unbestechliche Urteilskraft in seinen eigenen beruflichen Angelegenheiten verließ, jedoch nicht ohne Dünkel auf die Naturwissenschaften im Allgemeinen herabsah und im Besonderen auf die unbestreitbare und unbestrittene Tatsache, dass meine Mutter sich von ihrer Firma nach allen Regeln der Kunst ausbeuten ließ. Selbstredend auch von ihm, denn dass meine Mutter neben ihrem Vollzeitjob auch den Haushalt alleine schmiss, war zumindest für ihn eine ausgemachte Sache.

Meine Mutter bewies zwar Mut in manchen Dingen, doch aus heutiger Sicht mag uns ihr Leben zu unemanzipiert erscheinen, sie selbst zu fügsam, nicht aufbegehrend genug. Immerhin aber ist sie nicht vor Gram über den vergleichsweise lockeren Lebenswandel ihrer Kinder gestorben wie die Mutter jener Marion aus dem Theaterstück. Sie war meistens eine ziemlich tolerante Person, nur nicht in der Lage, für sich selbst das einzufordern, was ihr zugestanden hätte.




Warte nicht, bis man dir die Haut abzieht.

Nadja Tolokonnikowa, Anleitung für eine Revolution


Das wurde besonders deutlich, als es für sie ans Sterben ging. Gleich zwei verschiedene aggressive Krebsarten rafften sie dahin. Sie gehörte zu der Sorte Moribunder, die man gemeinhin als außerordentlich tapfer beschreibt. Nicht dass sie nicht wütend gewesen wäre – besonders auf die Ärztin, die sie mit einer Falschdiagnose wieder nach Hause schickte, weshalb der erste Krebs monatelang unbehandelt blieb. Oder auf den Professor, der ihr, als sie ihm drei Monate vor ihrem Tod ein paar Knubbel auf dem Kopf zeigte, ins Gesicht lachte und sagte, das seien keine Metastasen und mit diesen Knubbeln würde sie sogar ihn noch überleben. Oder auf die Ärztin, die sie vier Wochen vor ihrem Tod beim Lesen in ihrer eigenen Patientenakte erwischte und sie wegen dieses „Vergehens“ zusammenstauchte. Oh ja, sie war wütend! Sie war so wütend, dass sie zu mir sagte, am liebsten würde sie eine Tasse gegen die Wand knallen, wobei sie ihre Worte mit ihrem vom Krebs ausgezehrten Ärmchen pantomimisch illustrierte.

Ich bewunderte meine Mutter dafür, dass sie dem Tod so gefasst ins Auge blickte. Sie bewahrte Haltung. Sie wollte nicht bedauert und bemitleidet werden. Wenn ich mich zu sehr um die Linderung ihrer Symptome kümmerte, forderte sie mich auf, sie abzulenken. Geistige Nahrung war ihr wichtiger als betüddelt zu werden. Zum ersten Mal in ihrer Ehe lehnte sie es auch ab, sich um meinen Vater zu kümmern und sich damit zu beschäftigen, wie es mit ihm nach ihrem Tod weitergehen solle. Sie war offenbar endlich einmal ganz auf sich selbst fokussiert.

Und doch konnte sie sich bis zum Schluss nicht zur Wehr setzen. Sie begehrte nicht auf gegen die Ärzte, die ihr, einer Naturwissenschaftlerin, die Wahrheit vorenthielten oder sich gar nicht erst darum bemühten, sie herauszufinden. Selbst im Todeskampf blieb sie – trotz Metastasen im Gehirn – diszipliniert. Sie litt Höllenqualen. Aber anstatt zu schreien vor Schmerzen, jaulte meine Mutter nur hin und wieder auf, was die Wochenendbesetzung der Klinik nur allzu bereitwillig überhörte. Ich musste erst die Stationsschwester zusammenfalten, bis man sich endlich herabließ, meiner Mutter das Martyrium wenigstens zu erleichtern. 

Und wissen Sie, was die dumme Gans zu mir sagte? „Soweit ist ja noch alles gut, die Atmung noch regelmäßig …“

Gut??? Ich dachte, ich höre nicht richtig. Was sollte an einer regelmäßigen Atmung gut sein, wenn der Patient sich nur noch quält? Bei jedem einzelnen Atemzug meiner Mutter hoffte ich, es würde ihr letzter sein. Ich wünschte mir Erlösung für sie und nicht die Verlängerung ihres furchtbaren und unaushaltbaren Leidens.
Doch es war Sonntag und die externe diensthabende Ärztin war nicht gewillt, die Verantwortung für ihr Dahinscheiden zu übernehmen, weshalb sie Schmerzmittel und Sedativa nicht ausreichend hoch dosierte. So sieht es nämlich aus, wenn Kliniken privatisiert werden und die ökonomische Effizienz im Vordergrund steht und nicht etwa die adäquate Versorgung der Patienten.Willkommen bei Asklepios! Wir stehen für eine menschliche und hoch qualifizierte Versorgung unserer Patienten.“ – Pustekuchen!

Als montags der Oberarzt wieder da war, durfte sie dann endlich gehen. Das ist nun auf den Monat genau zehn Jahre her …




Lehnt euch auf – erst recht. Lehnt euch auf – trotz allem. Es wird sich auszahlen.

Nadja Tolokonnikowa, Anleitung für eine Revolution


Aber was geht uns heute eigentlich ein Frauenschicksal einer im Jahre 1930 Geborenen an? Warum erzähle ich Ihnen die Geschichte meiner Mutter überhaupt?

Weil sich seither nur so wenig geändert zu haben scheint. Auch heute noch müssen Frauen zu im Vergleich mit Männern wesentlich niedrigeren Löhnen und Gehältern arbeiten und besonders häufig unter prekären Bedingungen; auch heute noch heften sich die überwiegend männlichen Chefs die Verdienste ihrer Mitarbeiterinnen ans Revers; auch heute noch müssen Frauen die meisten Arbeiten im Haushalt verrichten und den Löwenanteil in der Kindererziehung übernehmen. Das einzige, was sich grundlegend geändert zu haben scheint, ist der ökonomische und moralische Druck auf Frauen, sich nach der Geburt ihrer Kinder möglichst rasch und ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse ihres Nachwuchses wieder in den Dienst unserer auf Kapitalverwertung gründenden Gesellschaft zu stellen.

Zuweilen will es einem scheinen, dass die Ausbeutung der Frauen mit ihrem Aufgabenzuwachs sogar eher noch krassere Formen angenommen hat. Es fällt auf, dass die Frauen von heute sich offensichtlich kaum besser dagegen zur Wehr setzen können als seinerzeit die Frauen der Generation meiner Mutter.

Noch auffälliger ist die Ungleichbehandlung der Geschlechter, wenn es um Krankheiten geht. Auch heute noch sind kranke, insbesondere chronisch kranke Frauen – seien sie auch noch so tapfer – Patienten zweiter Klasse, deren Beschwerden von vielen Ärzten als Lappalien betrachtet werden, als Ausdruck mangelnder Selbstbeherrschung oder gar als Willensschwäche. Und das, obwohl Frauen nur selten die klassische Krankenrolle einnehmen können, weil sie mit der Vielzahl ihrer Aufgaben – Beruf, Familie, Haushalt – in der Regel nicht vereinbar ist.

Gerade die Myalgische Enzephalomyelitis mit ihrer Symptomvielfalt eignet sich ganz besonders dazu, ärztliche, aber auch gesamtgesellschaftliche Vorurteile gegenüber weiblichen Patienten zu schüren und zu pflegen und die von den Patientinnen geschilderten somatischen Symptome zu einem sogenannten „funktionellen Syndrom“, zu einer „Befindlichkeitsstörung“, zu „Müdigkeit“, „Burnout“, „gestörtem Allgemeinbefinden“ oder einer vegetativen Dystonie“ kleinzureden.

Darüber hinaus bleiben Krankheiten wie z.B. die Myalgische Enzephalomyelitis, Fibromyalgie, Irritable-Bowl-Syndrom, an denen überwiegend Frauen erkranken, weitgehend unerforscht. Weil Ursachenforschung und Entwicklung entsprechender Therapien mit einem hohen Kostenaufwand verbunden wären, macht man sich gar nicht erst die Mühe, die organischen Ursachen herauszufinden, und verschreibt lieber Psychopharmaka, damit diese Frauen möglichst schnell wieder ihren sozialen, beruflichen und familiären Pflichten Genüge leisten können. Mithilfe der Psychopharmaka sollen diese Frauen gewissermaßen „gezähmt“ und an die ihnen von der Gesellschaft angetragenen Aufgaben optimal angepasst werden. Greifen diese psychiatrischen Behandlungen nicht – was bei organischen Krankheiten nicht anders zu erwarten ist –, dient die psychiatrische Diagnose häufig dazu, diese Frauen möglichst problemlos durch die Maschen des Sozialsystems fallen lassen zu können. Da sie für den Kapitalverwertungsprozess nicht reaktiviert werden konnten, sind sie schlicht unbrauchbar geworden.




Make rioting a habit.

Nadja Tolokonnikowa, Anleitung für eine Revolution


Was unternehmen wir gegen diese Ungleichbehandlung? Meistens gar nichts. Wir sitzen – und dieses Szenario kennt jeder ME-Patient, der schon etwas länger erkrankt ist und Gelegenheit hatte, sich mit der Krankheit zu beschäftigen – ganz brav vor unserem Arzt oder Gutachter, buhlen um sein Verständnis für unsere bizarre Symptomatik und versuchen nach Möglichkeit zu verbergen, dass wir wahrscheinlich zehnmal soviel wie unser Gegenüber von unserer Krankheit verstehen. Warum machen wir das? Weil wir sie nicht unnötig reizen wollen, wir wollen ja schließlich mit der Bestätigung der Diagnose und einem akzeptablen Gutachten nach Hause gehen oder ihnen vielleicht noch ein paar Rezepte und ein paar Untersuchungen auf Kasse abluchsen, da wir ohnehin durch die Krankheit finanziell auf dem letzten Loch pfeiffen. Wir spielen die Rolle des unterwürfigen und leicht depperten Patienten, weil uns gar nichts anderes übrigbleibt, wenn wir nicht für unsere Aufmüpfigkeit mit einer F-Störung bestraft werden wollen.

Falls wir ME-kranke Kinder haben, dann nehmen wir Mütter zur Erstvorstellung des Kindes bei einem Arzt zähneknirschend den Kindsvater mit, obwohl wir bisher im Leben auch ziemlich gut alleine zurecht gekommen sind und nicht wie viele Frauen aus früheren Generationen unseren Mann vorschicken mussten. Denn im Falle, dass wir darauf verzichten, ihn mit zum Arzttermin zu schleppen, kann es uns nämlich blühen, eine Münchhausen-by-proxy-Diagnose angehängt zu bekommen oder zumindest Überfürsorglichkeit oder Überbesorgtheit und all solchen pseudopsychologischen Käse.

Wenn in der Presse wieder einmal unzutreffende Artikel über unsere Krankheit erscheinen oder vom Bundesministerium für Gesundheit beauftragte Institute abermals einen Haufen Desinformationen über unsere Krankheit verbreiten, dann schreiben wir gesittete Leserbriefe, kniefällige Bittbriefe, händeringende Ersuchen und manierliche Petitionen, obwohl wir am liebsten nicht nur eine Tasse gegen die Wand knallen, sondern eine Bombe schmeißen würden angesichts der Missachtung und Misshandlung, die wir seit Jahrzehnten ertragen müssen.



Schreie!

Nadja Tolokonnikowa, Anleitung für eine Revolution


Manchmal, an den Tagen, wo der Gaul mit uns durchgeht, reißen wir verwegen das Ruder herum und treten so selbstbewusst und kämpferisch auf, wie es unserem Naturell entspricht. Obwohl das oftmals durchaus Wirkung zeigt, gefällt es nur den wenigsten Adressaten unserer Empörung.

Doch meistens betragen wir uns schicklich und hoffen einfach nur, hoffen, dass sich bald etwas ändern und es in absehbarer Zeit eine effektive Behandlung für alle geben wird. Aber Hoffnung und bloßes Wohlverhalten werden nichts verändern an unserer Lage, denn die ME-Patienten hoffen seit mehr als 80 Jahren vergeblich darauf, dass man sich ernsthaft mit ihrer Krankheit auseinandersetzt.

Wie war das nochmal mit meiner Mutter? Zu unemanzipiert, zu fügsam, nicht aufbegehrend genug, tolerant, aber nicht in der Lage, für sich selbst das einzufordern, was ihr zugestanden hätte. Ja, das trifft ja wie die Faust aufs Auge ebenso auf uns ME-Kranke zu!






Du hast keine 500 Jahre. Lebe mit voller Wucht.

Nadja Tolokonnikowa, Anleitung für eine Revolution


Schmeißen wir doch die Tugendhaftigkeit über Bord, machen wir uns unabhängig und pfeifen wie die Grisette Marion auf Konventionen! Nehmen wir unser Schicksal in die Hand! Nehmen wir uns das, was uns zusteht! Act up!

Was können wir schon verlieren? Ein Wunder wird nicht geschehen, da können wir warten, bis wir schwarz werden. Wir werden krank bleiben bis an unser Lebensende, wenn sich nicht etwas ganz Grundlegendes in der ME-Politik ändert. Von unseren jungen Schwerstkranken, die an progressiver ME leiden, werden etliche vorzeitig versterben, spätestens in ihren Dreißigern, so wie Emily Collingridge, Sophia Mirza und Lynn Gilderdale.

Und wir werden nicht einmal für unsere Leiden belohnt werden. Nein, es ist so wie Anton Tschechow es einen der Insassen des Krankenzimmers Nr. 6 in seiner gleichnamigen Erzählung sagen lässt: ... Und das Bittere und Kränkende ist, daß dieses Leben ja nicht mit einer Belohnung für die Leiden, nicht mit einer Apotheose wie in der Oper enden wird, sondern mit dem Tod; ...“.

Doch etwas Besseres als den Tod finden wir überall, wie es schon in den Bremer Stadtmusikanten heißt. Wenn wir nicht weiter bis zu unserem Ableben dahinsiechen wollen, müssen wir den Druck erhöhen und eine angriffslustigere politische Strategie entwickeln. Je vehementer wir unsere Rechte einfordern, desto schwieriger wird es für die Verantwortlichen, unsere Stimmen zu ignorieren – zumal in diesen Zeiten der guten Vernetzung! Wir brauchen so dringend biomedizinische Forschung, eine angemessene medizinische Versorgung und eine effektive Therapie. Je lauter wir uns mit diesen Forderungen bemerkbar machen, desto eher wird man uns hören. Orientieren wir uns doch an der erfolgreichen Politik der Act-up-AIDS-Aktivisten, die mit ihren öffentlichkeitswirksamen Aktionen so viel für die AIDS-Kranken und HIV-Infizierten vorangetrieben haben!

Denn eines Tages wird es für uns alle genau so kommen, wie meine kluge Mutter auf dem Sterbebett sagte: „Das war`s! Mehr gibt`s nicht.“

Es waren übrigens ihre letzten Worte.





Nadja Tolokonnikowa, Anleitung für eine Revolution, Hanser Berlin 2016
Georg Büchner, Dantons Tod, Reclam 1974
Anton Tschechow, Krankenzimmer Nr. 6, Meisternovellen, Manesse Verlag 1946
Gebrüder Grimm, Die Bremer Stadtmusikanten, Lappan 2003, 3. Aufl.

Bildnachweise:

Igor Mukhin, Pussy Riot, www.commons.wikimedia.org
Denis Bochkarev, Pussy Riot, www.commons.wikimedia.org
Denis Bochkarev, Pussy Riot, www.commons.wikimedia.org


Katharina Voss, Copyright 2016