Samstag, 17. Juni 2017

Suramin: Macht Robert Naviaux nun Nägel mit Köpfen?


Robert K. Naviaux, Senkrechtstarter in der ME/“CFS“-Forschung, hat eine richtig gute Idee. Der Experte für Humangenetik, angeborene Störungen des Stoffwechsels, Mitochondrienmedizin und Metabolomik, der für seine Hypothesen nicht nur begeisterte Zustimmung erntete, sondern auch kritische Kommentare – z.B. von mir – einstecken musste, plant eine Behandlungsstudie für „CFS“-Patienten* mit Suramin. Das über 100 Jahre alte Medikament mit dem orientalisch klingenden Namen wird seit den 20er-Jahren als Antiparasitikum u.a. gegen die Schlafkrankheit eingesetzt. Ferner gab es klinische Experimente in hoher Dosierung mit Krebs- und AIDS-Patienten, für letztere allerdings mit durchweg schweren Nebenwirkungen, teils sogar fatalem Ausgang verbunden.



Erst kürzlich brachte Naviaux nun eine kleine placebokontrollierte Doppelblindstudie zur Wirksamkeit von Suramin bei Autismus heraus. Die fünf autistischen Kinder, denen eine sehr niedrige Einzeldosis Suramin verabreicht wurde, erfuhren signifikante Verbesserungen ihrer Kernsymptome. Die Eltern erlebten bei ihren Kindern einen erstaunlichen Zuwachs an Sprache, sozialer Interaktion und eine Verringerung an eingeschränkten oder repetitiven Verhaltensweisen. Bei den Probanden der Kontrollgruppe, die das Placebo erhielten, wurden keine Verbesserungen beobachtet.

Wie kam Naviaux ausgerechnet auf Suramin?


Nach Naviaux` Auffassung werden Autismus, „Chronic Fatigue Syndrom“, das Golfkriegssyndrom und einige Autoimmunkrankheiten durch eine Stoffwechseldysfunktion und eine beeinträchtigte Interaktion der Zellen von Gehirn, Darm und Immunsystem verursacht. Er greift für seine Krankheitsverursachungstheorie auf den von ihm geprägten Begriff Cell Danger Response (CDR) zurück. Die CDR soll im Normalfall die Zellen vor eindringenden Pathogen, z.B. Viren und Bakterien, und vor chemischen, z.B. Umweltgiftstoffen, oder physikalischen Bedrohungen, z.B. Verletzungen, schützen. Sie sorgt dafür, dass die Zellmembran sich verhärtet und die Zelle die Kommunikation mit anderen Zellen einstellt, bis die Gefahr vorüber ist.

Im Falle von Autismus und „CFS“ beispielsweise, so Naviaux` Hypothese, bleibe die CDR jedoch im Gefahrenmodus „stecken“ und sei nicht in der Lage, ihn zu überwinden, obwohl die Gefahr längst gebannt sei. Die Zellen verharren also ungeachtet der Tatsache, dass die Bedrohung nicht mehr vorhanden ist, weiterhin im Alarmzustand. (Nebenbei bemerkt: Mit den ME-Epidemien und mit der Tatsache, dass ME erstmalig im Jahr 1934 auftrat und Autismus erstmalig in den frühen 40er-Jahren als Krankheitsbild beschrieben wurde, ist Naviaux` Hypothese freilich nicht vereinbar.)

Aber wie kommt es dazu? Zellen überprüfen ihre nähere Umgebung stets auf mögliche Gefahren, u.a. mittels purinergischer Signalisierung. Eine Vielzahl von Rezeptoren, die an Purine binden, kontrollieren die Umgebung der Zelle und signalisieren dem Inneren der Zelle, v.a. den Mitochondrien – den „Zellkraftwerken“ –, potentielle Gefahren von außen. Das nennt man purinergische Signalisierung. Adenosintriphosphat (ATP) ist beispielsweise eines dieser Purine, deren Level von den purinbindenden Rezeptoren kontrolliert werden. Innerhalb der Zellen fungiert ATP als wichtiger Energielieferant. Extrazelluläres ATP hingegen ist ein Gefahrensignal.

Naviaux vermutet nun, dass Anomalien der purinergischen Signalisierung für das Steckenbleiben der CDR im Gefahrenmodus verantwortlich sind. Das Verharren der Zellen im Alarmzustand führe zu einer metabolischen Dysfunktion und diese könne in früher Kindheit Autismus, im späteren Leben „CFS“ verursachen. Die dauerhafte Abschaltung der Zellkommunikation hat eine Abnahme der Energieproduktion in den Mitochondrien zur Folge. Die mitochondrialen Funktionsstörungen manifestieren sich dann als chronische Erkrankung, die z.B. durch einen signifikanten Energiemangel gekennzeichnet ist.



Naviaux suchte deshalb nach einem antipurinergen Mittel, das die extrazelluläre ATP-Signalisierung hemmen kann und stieß dabei auf Suramin, einen bereits gut untersuchten Inhibitor der purinergischen Signalisierung. Wenn der krankmachende Alarmzustand der Zellen durch Suramin aufgehoben, ihr Verharren in der CDR beendet werde, bekämen die Zellen die Möglichkeit zur Heilung, so der studierte Biochemiker


Ein weiterer Wirkmechanismus von Suramin


Ob Naviaux auf der richtigen Spur ist, was den Wirkmechanismus von Suramin angeht, wird sich aber erst noch zeigen. Vielleicht ist die Blockierung der purinergischen Signalisierung nur ein Nebeneffekt dieses Mittels. Oder es ist womöglich gar nicht der entscheidende Effekt? Denn Suramin ist auch ein Medikament, das die Reverse Transkriptase hemmt. Reverse Transkriptase ist ein Enzym, das Retroviren für ihre Vermehrung benötigen.

Wenn man Judy Mikovits` Forschung (oder auch der von Sidney Grossberg) folgt, die sowohl im Blut von autistischen Kindern als auch von ME-Patienten Sequenzen eines Humanen Gammaretrovirus gefunden hat, könnte man auch davon ausgehen, dass Suramin wegen seiner Eigenschaften als Reverse Transkriptase-Inhibitor ein wirksames Medikament für autistische Kinder und möglicherweise auch für ME-Patienten ist. In vitro- und in vivo-Versuche mit Suramin haben jedenfalls gezeigt, dass es seine virostatischen Eigenschaften auch bei Infektionen mit Mausleukämieviren, die zur Gattung der Gammaretroviren gehören, entfaltet.

Doch von Viren oder gar Retroviren als Ursache für ME bzw. „CFS“ hält Robert Naviaux nichts. Wie ich in meinem Blogpost zu seiner Metabolomstudie bereits am Rande erwähnt habe, ist Naviaux ein entschiedener Gegner der Hypothese, dass ME-Patienten an latenten, niedriggradigen Infektionen leiden. Auf virale oder retrovirale Belastungen hat er seine Studienteilnehmer freilich nicht untersucht, sodass seine Argumente bloße Behauptungen bleiben.

Sollten aber – entgegen Naviaux` Mutmaßungen – schwelende Infektionen das Krankheitsgeschehen aufrechterhalten, wäre es sogar fahrlässig, die CDR, den Alarmzustand der Zellen einfach abzuschalten. Denn wenn man – bildlich gesprochen – die Alarmanlage abschaltet, solange die Einbrecher noch im Haus sind, können die ungestört fette Beute machen. Das Abschalten des Alarms würde also eher das Gegenteil bewirken, nämlich dass die Pathogene noch leichteres Spiel haben.



Sofern es sich aber nicht um eines oder mehrere der üblichen verdächtigen, weit verbreiteten Viren oder andere bekannte, mit ME in Verbindung gebrachte Pathogene, sondern tatsächlich um ein Retrovirus handelt, wäre Letzteres jedoch vermutlich durch Suramin in Schach zu halten – dank dessen Eigenschaft als Reverse Transkriptase-Hemmer.

Gegen lebensbedrohliche opportunistische Infektionen, wie sie bei AIDS-Kranken auftreten, scheint das Medikament allerdings wohl nicht wirksam zu sein. Das zeigten HIV-Behandlungsstudien mit Suramin. Ob das auch für die weit weniger dramatisch verlaufenden opportunistischen Infektionen ME-Kranker zutrifft, wird sich weisen müssen. Doch wenn das etwaige Retrovirus, das offensichtlich weniger pathogen und weniger aggressiv als das HI-Virus ist, erfolgreich mit Suramin bekämpft werden kann, wird das Immunsystem vielleicht auch besser mit diesen niedriggradigen, schwelenden Infektionen fertig.

Was auch immer der Wirkmechanismus von Suramin bei Krankheiten wie Autismus und eventuell auch ME bzw. „CFS“ sein mag – er wird hoffentlich in nicht allzu ferner Zeit erforscht werden. Interessant ist letzten Endes, ob Naviaux mit Suramin auch bei einer Krankheit wie ME Behandlungserfolge erzielen wird. Dabei kann man nur hoffen, dass Naviaux, sollte er das Geld für diese Studie eines Tages beisammen haben, auch tatsächlich nur ME-Patienten daran teilnehmen lässt – also Patienten, die die strenggefassten Internationalen Konsenskriterien erfüllen. Denn nur so werden sich belastbare Ergebnisse erzielen lassen.

*Naviaux spricht fast ausschließlich von „CFS“ bzw. vom „Chronic Fatigue Syndrom“.

15.09.2017, Update: In diesem Interview mit Robert Naviaux erfahren Sie mehr zur geplanten Suramin-Studie mit "ME/CFS"-Patienten. Bedauerlicherweise werden die Probanden nach den IOM-Kriterien rekrutiert, die nicht geeignet sind, #MEICC-Patienten sicher zu identifizieren. 

Bildnachweise:

Trophime Bigot, Der Hl. Sebastian wird von Irene geheilt, www.commons.wikimedia.org
Eva Bonnier, Magdalena
www.commons.wikimedia.org
Bamberg Heilig-Grab-Kirche Gründungslegende, 
www.commons.wikimedia.org

Katharina Voss, Copyright 2017