Montag, 17. Juli 2017

Petition: Offener Brief an Gesundheitsminister Gröhe und Forschungsministerin Wanka


Sehr geehrter Herr Minister Gröhe,
sehr geehrte Frau Ministerin Wanka!

Vor mehr als einem Jahr startete ich meine Petition „Wir wollen unser Leben 
zurück!“ für Patienten, die an der Myalgischen Enzephalomyelitis (ME), verharmlost als „Chronic Fatigue Syndrom“ („CFS“), erkrankt sind. Die Hauptforderungen von mir und den bislang mehr als 6700 Unterzeichnern sind:


  •  ANERKENNUNG DES WHO-CODES G93.3
  •  GELDER FÜR DIE BIOMEDIZINISCHE ERFORSCHUNG VON ME  („CFS“)
  •  SCHLUSS MIT DER DISKRIMINIERUNG DURCH UNSER  GESUNDHEITSSYSTEM

Meine Petition ist noch lange nicht beendet. Mit diesem offenen Brief an Sie, Herr Minister Gröhe und Frau Ministerin Wanka, meine beiden Hauptadressaten der Petition, möchte ich lediglich ein kurzes Zwischenresümee ziehen, bevor die heiße Phase Ihres Wahlkampfs beginnt.




Es ist beschämend, dass Deutschland, eines der reichsten Länder der Erde, keinen Cent in die Erforschung dieser Krankheit investiert – trotz steigender Inzidenzrate und trotz der erschreckenden Tatsache, dass hierzulande schätzungsweise zwei- bis dreihunderttausend Menschen erkrankt sind. Ein vergleichsweise kleines Land wie Norwegen mit seinen ca. 10.500 ME-Kranken hat erst kürzlich 30 Millionen NOK an Forschungsgeldern bewilligt. Das sind umgerechnet knapp 3,2 Millionen € und damit pro Erkrankten etwa 305 €. Die NIH lassen jährlich immerhin noch 
8 $ pro ME/"CFS"-Patient springen – das ist wenigstens mehr als nichts.

Und wo bleibt Deutschland, das sich immer wieder lauthals rühmt, eines der besten Gesundheitssysteme der Welt zu besitzen? Für die deutschen ME-Patienten fühlt es sich offenbar nicht zuständig; sie werden hierzulande nicht besser versorgt als die Ärmsten der Armen in den Slums von Drittweltländern – bekanntlich so gut wie gar nicht.

Damit nicht genug: Das deutsche Gesundheitssystem bekämpft aktiv die ME-Patienten, beispielsweise mit Leitlinien, die mit ihren Behandlungsempfehlungen dafür sorgen, dass die Patienten noch kränker werden. Eine Revision der DEGAM-Leitlinie Müdigkeit steht momentan an und der neue Entwurf ist ein Desaster für die Erkrankten. Zum wiederholten Male setzen sich die DEGAM-Autoren über das internationale Klassifikationssystem hinweg und berufen sich bei ihrer Einschätzung und ihren Empfehlungen auf Studien von Psychiatern. Und es werden wieder Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) und schrittweise körperliche Aktivierung (GET) als Therapiemaßnahmen empfohlen – zum Leidwesen der Betroffenen, die bei diesen kontraindizierten Behandlungen mit oftmals dauerhaften Verschlechterungen rechnen müssen.



Dabei ist die von Psychiatern und Psychosomatikern vertretene Hypothese, dass ME/“CFS“ keine organische Krankheit, sondern nur eine Folge sogenannter falscher Krankheitsüberzeugungen, Furcht-Vermeidungsverhalten, Trainingsphobie und Dekonditionierung ist, längst durch Tausende von biomedizinischen Studien widerlegt. Und die britische PACE Trial, mächtigstes Pfand dieser psychiatrischen Hypothese, wurde inzwischen wissenschaftlich als „betrügerische und moralisch bankrotte Forschungsarbeit“ komplett demontiert und als Schwindel entlarvt.

Das ist den DEGAM-Autoren aber offensichtlich völlig egal. Sie halten eisern an ihrer Auffassung fest, obwohl die NIH auf ihrer Webseite inzwischen vor den verheerenden Folgen von häufig bereits geringer körperlicher Anstrengung für die Patienten warnen und die CDC ihre Webseite der neuesten Forschung angepasst und ihre vorherigen Behandlungsempfehlungen (GET und CBT) nach dem Debakel der PACE Trial und der Überarbeitung des amerikanischen Evidenzreports zu Diagnose und Behandlung von „ME/CFS“, herausgegeben von der U.S. Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ), ersatzlos gestrichen haben.

Auch das RKI scheint sich nicht bemüßigt zu fühlen, seine Aktivierungsempfehlungen zu überdenken. Die Stellungnahme seiner Umweltmedizinkommission, die den schlampig recherchierten Report Erkenntnisstand zum „Chronic Fatigue Syndrome“ (CFS) erstellt hat, ist – ebenso wie der Report – immer noch auf der Webseite vom RKI eingestellt. Man glaubt anscheinend weiterhin, dass „ … der Bericht wertvolle Akzente für die Symptom mindernde (sic) Behandlung“ setzt und hofft und erwartet wohl auch zukünftig, „ … , dass diese Erkenntnisse über die ambulant und klinisch tätigen Ärzte weitergegeben werden.“ Gleichzeitig verweist das RKI unter dem Menüpunkt „Weitere Informationen“ aber auf die Webseite der CDC. Ist die Überarbeitung der CDC-Webseite am RKI nicht zur Kenntnis genommen worden oder wurde sie bewusst ignoriert? Ärzte und Patienten auf der Suche nach Informationen werden jedenfalls verwirrt durch solche Doppelbotschaften.



Auf Facebook schreiben Sie, Herr Minister Gröhe, dass Sie die globalen Gesundheitsgefahren bekämpfen wollen und machen sich für die Bekämpfung grenzüberschreitender Gesundheitskrisen stark. Auch Sie, Frau Ministerin Wanka, haben sich anlässlich des G20-Gipfels zu gemeinsamem Handeln bekannt und gefordert, dass die Forschung für die drängenden globalen Herausforderungen Lösungen entwickeln muss, damit die Weltgemeinschaft zukünftig auf Gesundheitskrisen besser vorbereitet ist. 

Doch wie sieht es mit der globalen ME/"CFS"-Epidemie aus? 17 Millionen Menschen weltweit sind an ME/"CFS" erkrankt, ca. 80% von ihnen sind arbeitsunfähig und 25% dauerhaft an Haus und Bett gefesselt. Diese Epidemie mit wachsender Prävalenz scheinen Sie, Frau Ministerin Wanka und Herr Minister Gröhe, offenbar nicht im Blick zu haben, denn Forschungsmittel für ME/"CFS" stellt Deutschland nicht zur Verfügung. Wollen Sie die Bekämpfung der Epidemie einem kleinen Land wie Norwegen überlassen? 

Und wollen Sie wirklich dulden, dass das Elend der ME-Kranken in unserem Land fortbestehen bleibt, die Erkrankten auch zukünftig von Ärzten nicht ernst genommen, von Gutachtern verhöhnt, von der Gesellschaft verspottet und medizinisch, sozial und finanziell ausgegrenzt werden? Wollen Sie zulassen, dass sich diese Epidemie weiter ungehindert ausbreiten kann?

Die deutschen ME-Patienten erwarten von Ihnen, Herr Minister Gröhe und Frau Ministerin Wanka, dass Sie sich den Herausforderungen stellen und aktiv für einen dringend erforderlichen Paradigmenwechsel eintreten. Sorgen Sie bitte dafür, dass Forschungsgelder für die biomedizinische Erforschung und Behandlung dieser Krankheit sowie von seriösen wissenschaftlichen Fakten gestütztes Aufklärungsmaterial für Ärzte und Patienten in Deutschland bereitgestellt werden! Dann wird sich auch der Umgang mit den Erkrankten ändern und es werden sich neue Behandlungsperspektiven für die ME/“CFS“-Patienten auftun, damit sie endlich ein menschenwürdiges Leben führen und ihr Recht auf Teilhabe verwirklichen können.

Mit hoffnungsvollen Grüßen,
Katharina Voss

(Mutter zweier schwerstbetroffener Töchter)

P.S.: Dieser Brief wird auf meinem Blog http://meversuscfs.blogspot.de/ und als Petitionsbrief auf change.org veröffentlicht. Auf meinem Blog finden Sie auch alle Links zu Quellen.

Erläuterungen für die Blogleser:

CDC = Centers for Disease Control and Prevention. Die CDC sind eine Behörde der Vereinigten Staaten, deren Aufgabe der Schutz der öffentlichen Gesundheit ist. Infektionskrankheiten stehen dabei an erster Stelle; darüber hinaus die Vorbeugung von übertragbaren und nicht übertragbaren Krankheiten, der Schutz vor umweltbedingten Krankheiten, der Arbeitsschutz, die Gesundheitsförderung und allgemein die gesundheitliche Aufklärung.

DEGAM = Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Die von der DEGAM herausgegebenen Leitlinien instruieren Hausärzte und Allgemeinmediziner bezüglich Diagnostik und Therapie diverser Krankheitsbilder mit dem Ziel der Verbesserung der Versorgungsqualität und der Erhöhung der Nutzen-Aufwands-Relation hausärztlicher Versorgung.

NIH = National Institutes of Health. Die NIH sind eine Behörde des Ministeriums für Gesundheitspflege und Soziale Dienste der Vereinigten Staaten, die wichtigste Behörde für biomedizinische Forschung in den USA.

RKI = Robert Koch-Institut. Das RKI ist ein direkt dem Bundesministerium für Gesundheit unterstelltes Bundesinstitut für Infektionskrankheiten und nicht übertragbare Krankheiten. Hauptaufgabe ist die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von übertragbaren und nicht übertragbaren Krankheiten sowie die Analyse langfristiger gesundheitlicher Trends und neuer gesundheitlicher Risiken in der Bevölkerung. Das RKI führt eigene Forschung durch und ent­wickelt Empfehlungen zur Gesund­heits­för­de­rung und Krank­heits­ver­mei­dung. Aus der Selbstbeschreibung des RKI: "Das Streben nach exzellenter Forschung bestimmt die Arbeit des Instituts." 

Bildnachweise:

Jan Vermeer, Briefschreiberin in Gelbwww.wikipedia.org
Gabriel Metsu, La Fille malade, www.commons.wikimedia.org
Frederik de Wit, Nova Orbis Tabula in Lucem Edita, www.wikipedia.org


Katharina Voss, Copyright 2017