Donnerstag, 30. Juni 2016

ME und OP – und was nun?




Wie Menschen mit anderen chronischen Krankheiten auch bleiben Patienten mit Myalgischer Enzephalomyelitis leider ebenfalls nicht von zusätzlichen Krankheiten verschont, die beispielsweise eine Operation erforderlich machen. Ob ein Zahn gezogen oder ein Knochenbruch operativ behandelt werden muss, der Blinddarm, die Gallenblase oder Nierensteine entfernt werden müssen, immer stellt sich die Frage nach einer möglichst schonenden Behandlung, die die Grunderkrankung nicht noch verschlimmert.

OP und Vollnarkose können den Krankheitsverlauf nämlich erheblich verschlechtern, insbesondere auch die neurokognitive Symptomatik. Einzelfallberichte zeugen sogar von bleibenden Verschlechterungen nach nur kleinen chirurgischen Eingriffen. Deshalb sollte eine OP immer nur dann ins Auge gefasst werden, wenn eine konservative Behandlung nicht anschlägt und die OP unumgänglich wird. Die meisten ME-Patienten erholen sich sehr viel langsamer nach einer OP als Menschen ohne diese Grundkerkrankung. Während einige Patienten eine dauerhafte Verschlechterung durch OP und Vollnarkose davontragen, erholen sich andere langsam, aber stetig wieder davon.

Generell reagieren ME-Patienten extrem empfindlich auf Medikamente und Chemikalien. Schon der Geruch eines Desinfektionsmittels kann eine Immunreaktion mit einer oft gravierenden Symptomatik beim ME-Kranken auslösen. Die Reihe spezifischer Überempfindlichkeiten erfordert deshalb meist eine Anpassung der Narkosemittel sowie spezielle vor- und nachbereitende OP-Maßnahmen.

Deshalb sollten Sie vor einer geplanten OP die Ärzte Ihres OP-Teams über Ihre Grunderkrankung und die damit verbundenen Komplikationen unterrichten. Falls ein stationärer Aufenthalt erforderlich sein sollte, empfiehlt es sich, das Stationsteam ebenfalls über die mit dieser Krankheit verbundenen Besonderheiten und Erfordernisse zu informieren.

(Wenn Sie hier klicken, können Sie den Blogpost für Ihre Ärzte zum Ausdrucken herunterladen. Hier habe ich ein Dokument vorbereitet, das Ärzte und Pflegepersonal über Ihren Zustand informiert. Bitte ergänzen Sie die Angaben und streichen Sie, was auf Sie persönlich nicht zutrifft. Den Notfallausweis, herausgegeben von der New Jersey ME/CFS Association und übersetzt von Regina Clos, können Sie hier ausschneiden, laminieren lassen und ins Portemonnaie oder die Brieftasche stecken. Bitte beachten Sie, dass hier nur allgemeine Empfehlungen auf der Grundlage der nur spärlich vorhandenen Literatur gegeben werden können. Vergessen Sie bitte nicht, diese Empfehlungen durch eigene Angaben zu ergänzen bzw. Empfehlungen zu streichen, die nicht auf Ihren individuellen Fall zutreffen. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben. Wenn Sie dieses Dokument nutzen wollen und an Ihre Behandler weitergeben, tun Sie das auf eigene Gefahr. Im Übrigen verweise ich auf meinen Disclaimer.)


Vorbemerkungen zur Myalgischen Enzephalomyelitis





Die Myalgische Enzephalomyelitis (ME) – im ICD unter G93.3 codiert – ist eine schwere chronische neuroimmunologische Multisystemerkrankung bislang unbekannter Ursache. Sie tritt sowohl sporadisch als auch in Epidemien und Clustern auf. [Hyde, 1992; Dowsett u.Colby, 1997] Die Belege für eine immmunologische und neurologische Dysregulation sowie für eine Stoffwechsel- und Kreislaufdysregulation sind durch über 6000 biomedizinische Studien zunehmend wissenschaftlich abgesichert.

Kernsymptom der Krankheit ist nicht etwa Müdigkeit, wie die irreführenden und unzutreffenden Bezeichnungen Chronic Fatigue Syndrom (CFS) oder Chronisches Müdigkeitssyndrom nahelegen. Kernsymptom ist eine pathologische Erschöpfbarkeit der Muskulatur, die oftmals bereits nach geringfügiger Belastung zu einer dramatischen Entkräftung führt. [Ramsay, 1986] Je nach Schweregrad der Krankheit können die knapp bemessenen Energieressourcen z.B. durch einen halben Arbeitstag, einen kurzen Spaziergang, leichte Hausarbeit oder sogar nur durch Nahrungsaufnahme, das Umdrehen im Bett oder das Sprechen eines einzelnen Wortes völlig erschöpft sein. Wer die vielfach sehr eng gesteckten Grenzen der Belastbarkeit überschreitet, muss mit einer vorübergehenden oder sogar dauerhaften Verschlechterung seines Zustands rechnen. 



Das Kernsymptom der ME, die pathologische Muskelerschöpfbarkeit, führt, wie geschildert, bei einem Großteil der Patienten bereits nach geringfügiger Belastung wie Alltagsaktivitäten zu einer massiven Entkräftung. Diese neuroimmune Zustandsverschlechterung nach Belastung wird post-exertional neuro immune exhaustion genannt, kurz PENE. [Carruthers et al., 2011] Denn die überwältigende Erschöpfung ist begleitet von einer Fülle neuroimmuner Symptome, darunter grippeähnliche Symptome wie Hals-, Lymphknoten- und Kopfschmerzen, Glieder- und Muskelschmerzen, Muskelzuckungen und -krämpfe, Nervenschmerzen, Schlafstörungen, Schüttelfrost. Zu einer PENE gehören aber auch stark behindernde kognitive Dysfunktionen wie erhebliche Konzentrationsstörungen, Ausfall des Kurzzeitgedächtnisses, verlangsamtes Denken, eine verwaschene Sprache, Informationsverarbeitungsschwierigkeiten, Desorientierung, Verwirrung, Wortfindungsschwierigkeiten, Licht-, Geräusch-, Lärm-, Geruchs-, Geschmacks- und Berührungsempfindlichkeit sowie viele weitere Symptome aus dem autonomen, urogenitalen und gastrointestinalen Bereich. [Carruthers et al., 2012]

Diese Symptome sind bei den Schwerkranken ständige, bei moderat und mild Erkrankten wechselnde Begleiterscheinungen der Krankheit. Bei allen Erkrankten treten die Symptome nach körperlicher und geistiger Anstrengung extrem potenziert oder aber aufs Neue auf. Zuweilen tritt eine Zustandsverschlechterung aber auch ohne erkennbaren Grund ein. Vielfalt, Stärke, und Häufigkeit der Symptome sind Gradmesser für die Schwere der Erkrankung.


Operationen und Narkosen




Operationen und Vollnarkosen können den Krankheitsverlauf einer ME erheblich verschlechtern, insbesondere auch die neurokognitive Symptomatik. Schon kleine chirurgische Eingriffe stellen eine große Belastung dar. Deshalb sollte eine OP immer nur dann bei ME-Kranken ins Auge gefasst werden, wenn alle konservativen Therapien fehlgeschlagen sind und die OP unumgänglich wird.

Viele der OP- und Narkoseempfehlungen, die für Patienten mit einem Post-Polio-Syndrom ausgesprochen werden, [Paschen et al., 2010] gelten auch für ME-Patienten, abgesehen jedoch z.B. von den postoperativen Physiotherapieempfehlungen, die nur für Post-Polio-Patienten gelten, weil sie eine sehr viel kürzere Erholungszeit nach körperlicher Belastung als ME-Patienten haben und nicht wie diese mit einer Zustandsverschlechterung auf Physiotherapie reagieren. [S.a. S. 8 in: Paschen, 2009] Auch einige andere Behandlungsdetails unterscheiden sich, die hier aber im Einzelnen noch spezifiziert werden.

Im Allgemeinen benötigt ein ME-Patient im Vergleich zu einer normalen Person weniger Betäubungsmittel. Vorsicht ist bei dem Einsatz von Muskelrelaxantien geboten. Es ist empfehlenswert, die Dosis bei Beginn zu halbieren (oder sogar noch sparsamer zu dosieren) und sie erst dann schrittweise zu erhöhen, wenn das Mittel gut toleriert wird. Wegen erhöhter Schmerzempfindlichkeit brauchen ME-Patienten oftmals mehr Schmerzmittel. Aber auch hier sollte mit Bedacht vorgegangen und das Mittel zunächst auf seine Verträglichkeit getestet werden. Schmerzmedikamente bergen u.a. ein erhöhtes Risiko für eine Atemdepression bei ME-Patienten. Größte Vorsicht ist aus diesem (und anderen Gründen) bei sedierenden Analgetika geboten. Wie bei Post-Polio-Syndrom-Patienten besteht bei ME-Patienten meist ebenfalls ein Minderbedarf an Medikamenten gegenüber einem Mehrbedarf an Blut und anderen Flüssigkeiten.

Vor allem neurochirurgische Eingriffe stellen ein erhöhtes Risiko für ME-Patienten dar, denn es liegen Hinweise auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit eines PFO (persistierendes Foramen ovale) bei ihnen vor. Diese Herzfehlbildung ist auch bei 60-80% der Migränepatienten mit Aura zu finden, zu denen ME-Patienten meist gleichfalls zählen.



Die krankheitsbedingten spezifischen Überempfindlichkeiten erfordern eine Anpassung der Narkosemittel sowie spezielle vor- und nachbereitende OP-Maßnahmen.


Präoperative Maßnahmen

Weil ME-Patienten unter wiederkehrender Muskelschwäche und auch kurzfristigen Lähmungserscheinungen leiden, die sich auch auf den Hustenreflex, die Atmung und das Schlucken auswirken können, ist eine präoperative Lungenfunktionsprüfung anzuraten.

ME-Patienten haben teils massive Herz-/Kreislaufprobleme. Dazu gehören beispielsweise Orthostatische Intoleranz, POTS, Schwindel, Herzrhythmusstörungen, Herzstolpern,  Palpitationen und Tachykardien. Aufgrund einer langjährigen Krankheitsdauer und viraler Belastungen könnte sich bei manchen Patienten eine Herzinsuffizienz eingestellt haben, die vor einem Eingriff medizinisch abgeklärt werden müsste. [Maes u. Twisk, 2009] Außerdem besteht Grund zur Annahme, dass die Herzleistung (bei erhaltener Auswurfleistung) in Rückenlage herabgesetzt sein könnte und ein Risiko für Druckabfall besteht. [Peckerman et al., 2003]



Es besteht bei vielen ME-Patienten der Verdacht auf ein intrazelluläres Defizit an Kalium und Magnesium. Die Mineralstoffe im Allgemeinen, v.a. aber Kalium und Magnesium sollten in ausreichenden Serumkonzentrationen vorliegen, insbesondere vor und nach Operationen. Gegebenenfalls muss supplementiert werden.

Viele ME-Patienten haben eine erhöhte Blutungsneigung. Oft ist auch ihre Wundheilung verzögert und manche neigen zu Hämatombildung. In dem Zusammmenhang sollten auch die Blutgerinnung und Vaskulitiden, von denen im Zusammenhang mit ME berichtet wurde, präoperativ abgeklärt werden.

Da die meisten ME-Kranken an einer Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse mit verminderten Cortisol-Werten leiden, müssen sie sowohl vor einer OP als auch in der postoperativen Phase auf eine relative Cortisol-Insuffizienz überprüft werden. Dabei sollte die Gesamtmenge an freiem Cortisol mit einem 24-Stunden-Cortisol-Urintest gemessen werden. Gegebenenfalls brauchen sie kurzfristig medikamentöse Unterstützung durch die Gabe von einem Steroid (z.B. niedrig dosiertes Hydrocortison) während und nach der OP, nämlich dann, wenn die Werte für freies Cortisol unter 20-30 mcg/24 Std liegen.

Vor einer OP sollte bei den Patienten auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr geachtet werden, um einem möglichen zu niedrigen Blutvolumen vorzubeugen. Vorsicht ist auch bei Medikamenten geboten, deren Wirkung durch ein niedriges Blutvolumen potenziert wird. Doch nicht alle ME-Patienten haben einen dauerhaft zu niedrigen Blutdruck. Bei manchen Patienten schwanken die Werte und können unter Stressbedingungen stark ansteigen. Es gibt sogar auch ME-Patienten mit einer Hypertonie, manchmal als Folgeerscheinung einer Begleiterkrankung.

Zu beachten ist ferner eine eventuell bestehende Kälteintoleranz. Sehr viele ME-Patienten haben schlecht durchblutete Extremitäten und können entsprechend schnell auskühlen. Damit das nicht passiert, sollte im kühlen OP-Saal eine angemessene Wärmezufuhr gewährleistet werden, z.B. mittels spezieller OP-Tisch-Auflagen.

Das Operationsteam sollte über die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln (NEM), Kräutern und Medikamenten unterrichtet werden, um Kontraindikationen und Wechselwirkungen auszuschließen und ein rechtzeitiges Absetzen von NEM und Medikamenten vor einer OP sicherzustellen.

Präoperativ sollte die Gabe von  Blutdrucksenkern oder Medikamenten, die neurogene Synkopen fördern könnten, nach Möglichkeit vermieden werden.

Da jeder ME/“CFS“-Patient anders auf Narkosemittel und Medikamente reagieren kann, sollten vor einer geplanten Operation für alle Narkosemittel und Medikamente Hauttests durchgeführt werden, um zu bestimmen, welche Mittel bedenkenlos zum Einsatz kommen können.


Narkose




Wann immer möglich, sollte bei ME-Patienten statt einer Vollnarkose ein Lokalanästhetikum eingesetzt werden. Dabei sollten Vasokonstriktoren, gefäßverengende Substanzen wie beispielsweise Adrenalin, nach Möglichkeit vermieden werden. Denn etliche ME-Patienten leiden unter Orthostatischer Intoleranz und neural vermittelter Hypotonie, was durch Katecholamine wie Adrenalin verstärkt wird. Bei Patienten mit orthostatischen Beschwerden können adrenalinhaltige Substanzen Synkopen auslösen. Auch das in der Zahnarztpraxis häufig verwendete Lidocain sollte nach kein Möglichkeit kein Adrenalin enthalten, allenfalls, wenn unumgänglich, in sparsamster Dosierung. Auch bei kleinen Eingriffen z.B. in der Dermatologie und Unfallchirugie sollten adrenalinfreie Lokalanästhetika bevorzugt eingesetzt werden.

Das Risiko für Überreaktionen des Immunsystems und allergische Reaktionen, inklusive hoher Histaminfreisetzung und Anaphylaxie, ist massiv erhöht. Histaminliberatoren wie z.B. die Gruppe der Thiobarbiturate, wozu auch das vielfach verwendete Thiopental-Natrium gehört, sollten bei diesen Patienten nach Möglichkeit nicht zum Einsatz kommen.

Muskelrelaxantien, die Histamin freisetzen, v.a. die von Curare abgeleiteten wie Tracrium, Mivacron usw. sowie das heute ohnehin kaum noch gebräuchliche Tubocurarin, sollten ebenfalls gemieden werden. Wenn Muskelrelaxantien unvermeidlich sind, dann sollten bevorzugt nicht-depolarisierende Substanzen zum Einsatz kommen. Auch die werden idealerweise so sparsam wie möglich dosiert und die Dosis wird nur bei Bedarf stufenweise gesteigert. Mittels neuromuskulärem Monitoring während der gesamten OP kann eine versehentliche Überdosierung von Muskelrelaxantien verhindert werden.

Das Gleiche gilt für inhalative hepatotoxische Anästhetika wie beispielsweise Halothan. Da viele ME-Patienten periodisch unter reaktivierten Herpesvirusinfektionen mit HHV-6 und EBV leiden, sind sie u.U. von einer milden, subklinisch verlaufenden Hepatitis betroffen. Deshalb könnten hepatotoxische Narkosegase möglicherweise eine fulminate Hepatitis bei ihnen auslösen.



Sympathomimetika mit blutdrucksenkender Wirkung wie Orciprenalin (Handelsname Alupent) und Vasodilatatoren, wozu gefäßerweiternde Substanzen wie Nitroglycerin, Stickstoffmonoxid, blutdrucksenkende Mittel inklusive Alphablocker gehören, könnten möglicherweise ebenfalls Synkopen auslösen und sind deshalb mit besonderer Vorsicht einzusetzen. Auch präoperativ sollten Blutdrucksenker oder Medikamente, die neurogene Synkopen fördern könnten, nach Möglichkeit nicht eingenommen werden.

Bewährt haben sich bei ME/“CFS“-Patienten folgende Narkosemittel: Propofol als Induktionsmittel, Midazolam, Fentanyl (ein kurz wirkendes Betäubungsmittel) und Droperidol (ein Mittel gegen Übelkeit) während der Narkose. Zur Aufrechterhaltung der Narkose empfiehlt sich eine Kombination von Distickstoffoxid, Sauerstoff und Isofluran. Dies sind jedoch nur Empfehlungen allgemeiner Natur. Jeder ME/“CFS“-Patient kann durchaus unterschiedlich auf Narkosemittel und Medikamente reagieren. Um das Risiko für Komplikationen zu minimieren, sollten deshalb, wie bereits erwähnt, für alle Mittel Hauttests vor einer geplanten Operation durchgeführt werden.

Eventuell könnte auch eine TIVA (Total Intravenöse Anästhesie) in Erwägung gezogen werden, wenn bei der Wahl der Substanzen auf die ME-spezifischen Besonderheiten Rücksicht genommen wird.

Es gibt Hinweise auf eine erhöhte Anfälligkeit für Sauerstofftoxizität bei ME-Patienten, insbesondere bei einem FiO2 über 40%. Ein niedrigerer Sauerstoffgehalt von unter 30% FiO2 scheint von den meisten, aber nicht allen ME-Patienten besser toleriert zu werden. Möglicherweise ist der bei ME-Patienten beeinträchtigte Stoffwechsel von reaktiven Sauerstoffspezies (ROS) der Grund für diese Anomalie. Diese Patienten können nicht genügend Radikalfänger – Antioxidantien – bilden und sind deshalb freien Sauerstoffradikalen schutzlos ausgeliefert, die bei ihnen oxidativen Stress auslösen und Zellstrukturen, Eiweiße und Erbinformation schädigen können.

Um schnell beurteilen zu können, ob Sauerstofftoxizität beim Patienten besteht, sollte seine Atemfrequenz (Atemzüge pro Minute) gemessen werden. Wenn eine Erhöhung der Rate festgestellt wird (Keuchen) oder eine Abnahme der Rate mit einer damit verbundenen Veränderung des Bewusstseins (Narkose), dann liegt eine Sauerstofftoxizität vor.


Postoperative Maßnahmen




ME-Patienten leiden häufig unter Muskelschwäche, zeitweise unter kurzfristigen Lähmungserscheinungen, Muskelzuckungen und Muskelspasmen, die sich auch auf den Hustenreflex, die Atmung und das Schlucken auswirken können. Deshalb müssen Atmung und Schluckreflex nach dem Einsatz von Muskelrelaxantien auch postoperativ beobachtet werden.

Die Beatmungsphase muss bei ihnen u.U. postoperativ verlängert werden. Auch mehrmalige Schleimabsaugungen könnten notwendig sein, da Schutzreflexe wie Husten und Schlucken oft abgeschwächt sind.

In der postoperativen Phase müssen die Patienten auf eine relative Cortisol-Insuffizienz überprüft werden. (Siehe „Präoperative Maßnahmen“)

Erfahrungsgemäß erholen sich ME-Kranke sehr viel langsamer nach einer OP als Gesunde oder Menschen mit anderen chronischen Krankheiten. Dem sollte bei einem stationären Aufenthalt Rechnung getragen werden. Nach ambulanten Eingriffen brauchen sie u.U. Unterstützung nach der Entlassung. [Narkose-, OP- und Medikationsempfehlungen für ME-Patienten/Post-Polio-Syndrom-Patienten: Cheney, 2010; Website von Prohealth, o.J.; Lapp, o.J.; Dowsett, 2001; Paschen et al., 2010; Calmes, o.J.] 


Warnung




Obwohl ME in Deutschland nicht als infektiöse Krankheit angesehen wird, sprechen über 60 ME-Epidemien und zahlreiche Cluster-Ausbrüche dafür, dass es sich um eine übertragbare Krankheit handelt. [Carruthers et al., 2011; Hyde, 1992; Dowsett u. Colby, 1997; Underhill u. O`gorman, 2006] Die Auswertung der bisherigen Epidemien lässt vermuten, der bislang unentdeckte Krankheitserreger könnte womöglich im alltäglichen sozialen Kontakt übertragen werden. [Underhill, 2015]

Es wird ferner angenommen, dass die Patienten v.a. ganz zu Beginn ihrer Erkrankung sowie während eines Krankheitsschubs/Zustandsverschlechterung, außerdem während eines zusätzlichen Infekts bzw. einer Infektion ansteckend sein könnten. Bei schwerer erkrankten Patienten ist das Infektionsrisiko insgesamt möglicherweise größer als bei mild oder moderat Erkrankten. Da die Eintrittspforte für den Erreger mutmaßlich der Nasen-Rachen-Raum ist (die meisten ME-Erkrankungen beginnen mit einem Atemwegsinfekt!), sollte das medizinische Personal zu seinem eigenen Schutz das Tragen eines Mundschutzes in Erwägung ziehen, wenn der ME-Patient an einem zusätzlichen Infekt erkrankt ist oder einen Krankheitsschub hat. Hygienemaßnahmen wie gründliches Händewaschen vor und nach dem Besuch am Krankenbett sollten selbstverständlich sein.

Rosemary Underhill, eine Verfechterin der Infektionshypothese, empfiehlt Gesundheitsdienstleistern und Krankenhausmitarbeitern darüber hinaus, Handschuhe zu tragen und die üblichen Sicherheitsvorkehrungen einzuhalten, wenn sie mit Körperflüssigkeiten oder Gewebe ME-Kranker arbeiten, um einer Verbreitung der Infektion vorzubeugen. [Underhill, 2015] Medizinisches Personal zählt auch heute noch zu den Hochrisikogruppen, die auffallend gehäuft an ME erkranken. [Jason et al., 1998; Pheby u. Saffron, 2009]


Medikamente




Medikamente sollten bei ME-Patienten stets sehr sparsam dosiert und Nutzen und Risiko wohl abgewogen werden. Viele Patienten haben eine Entgiftungsstörung und vertragen deshalb Medikamente nur schlecht oder gar nicht. Sie können z.B. allergische oder paradoxe Reaktionen bei ihnen bewirken.

Antibiotika können eine Herxheimer-Reaktion bei ME-Patienten auslösen, insbesondere bei ME-Patienten mit einer – meist nicht erkannten! – Borrelien-Coinfektion. Bei der Wahl antibiotisch wirksamer Arzneistoffe sollten Tetrazykline wie z.B. Doxycyclin bevorzugt werden. Sie werden i.d.R. besser als Makrolidantibiotika toleriert. Bakteriostatische Substanzen sind bakterioziden generell vorzuziehen, da die meisten ME-Patienten eine mitochondriale Dysfunktion (erworbene Mitochondriopathie) haben. Um einem weiteren Abfall der Glutathion-Konzentrationen vorzubeugen, empfiehlt sich bei ihnen eine zusätzliche, jedoch zeitlich versetzte Gabe von Antioxidantien wie z.B. Acetylcystein (NAC), sofern keine Histaminintoleranz besteht. Auch auf einen ausreichenden Darmschutz sollte bei ihnen geachtet werden. Mutaflor und LGG-Lactobacillus kommen beispielsweise in Frage. Perenterol ist hingegen bei immungeschwächten Patienten, zu denen ME-Patienten gehören, kontraindiziert.

ME-Patienten reagieren oftmals sehr empfindlich auf Sedativa. Nach Möglichkeit sollte der Einsatz von Sedativa und Psychotropika bei ihnen vermieden werden. Ist eine Gabe unumgänglich, sollten Benzodiazepine, Antihistaminika und Psychotropika bei Bedarf zunächst einmal nur sparsam und in niedriger Dosierung eingesetzt werden, um unerwünschte Nebenwirkungen ausschließen zu können.

Auch Schmerzmittel sollten zunächst auf ihre Verträglichkeit getestet werden. Acetylsalicylsäure und Diclofenac sollten nach Möglichkeit nicht zum Einsatz kommen. Ibuprofen wird von vielen Patienten gut vertragen.

Viele ME-Patienten haben eine Alkoholunverträglichkeit. Medikamente, die nur geringste Mengen an Alkohol enthalten, können ihren Zustand bereits verschlechtern. Auch Konservierungsstoffe werden im Allgemeinen schlecht toleriert. Deshalb sollten nach Möglichkeit Medikamente ohne diese Zusatzstoffe eingesetzt werden.


Allgemeine Empfehlungen für einen stationären Aufenthalt




ME-Patienten reagieren krankheitsbedingt extrem empfindlich auf Chemikalien. Schon der Geruch eines Desinfektionsmittels kann eine starke Immunreaktion bei ihnen auslösen. Im Falle einer stationären Unterbringung sollte dieser Überempfindlichkeit durch die Wahl von duftstofffreien, nicht aggressiven Reinigungs- und Desinfektionsmitteln Rechnung getragen werden.

Es besteht eine ausgeprägte Immundysfunktion bei den Patienten. Sie sind immundefizient und dementsprechend infektanfällig. [Goetz et al.; 2014] Virale Infekte verlaufen bei ihnen nicht im normalen Rahmen, sondern nehmen einen prolongierten Verlauf und ziehen nicht eben selten schwerwiegende Folgen nach sich. Ihr Zustand kann sich durch virale Infekte und bakterielle Infektionen drastisch verschlechtern.

Wegen der bestehenden Immundefizienz sollte medizinisches Personal sich stets gründlich die Hände waschen, bevor sie einen ME-Kranken behandeln. Da diese Patienten sich nach Möglichkeit nicht impfen lassen sollten, weil Impfungen das Krankheitsbild i.a.R. stark verschlechtern, sollte das Tragen eines Mundschutzes während einer Grippewelle (oder wenn Behandler oder Pflegepersonal eine Erkältung haben o.Ä.) in Gegenwart der Erkrankten selbstverständlich sein. Sofern der Patient sich beim Atmen nicht behindert fühlt, sollte auch ihm ein Mundschutz angelegt werden.
  
Viele ME-Patienten reagieren außerdem sehr empfindlich auf Zugluft. Zugluft ist bei ihnen unbedingt zu vermeiden, da sie sich meist rasch eine Erkältung zuziehen, mit der Folge starker Virusreaktivierungen.

Postoperative Physiotherapie ist bei den meisten ME-Patienten kontraindiziert, da bereits geringe körperliche Aktivität zu einer neuroimmunen Entkräftung nach Belastung führen und das Krankheitsbild nachhaltig verschlechtern könnte. [Twisk u. Maes, 2009] Um das Risiko für Lungenentzündung zu senken, sollte der schwer betroffene Patient Hilfestellung beim Aufsetzen bekommen, sofern sein Zustand und eventuell bestehende orthostatische Beschwerden es zulassen.

Jede Form von indirekter Aktivierung, z.B. durch Verweigerung oder Unterlassen dringend benötigter Hilfestellungen in der Versorgung (Hygienemaßnahmen, Nahrungsaufnahme, Rollstuhl o. Liegerollstuhl, Toilettengänge etc.), ist unbedingt zu vermeiden. Je nach Schwere der Grunderkrankung brauchen ME-Patienten mehr oder weniger Assistenz. Das Pflegepersonal sollte sich daher auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten einstellen.

ME-Patienten benötigen i.d.R. ein Einzelzimmer, da sie krankheitsbedingt ein vermehrtes Ruhe- und Erholungsbedürfnis haben. Bei vielen von ihnen ist außerdem der Tag-/Nachtrhythmus pathologisch verändert oder sogar umgekehrt. Unnötige Störungen durch Pflege- oder Reinigungskräfte sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Ebenso Reizexposition, denn die Patienten sind extrem geräusch-, licht-, berührungs- und geruchsempfindlich. Dem Wunsch des Patienten nach auch tagsüber geschlossenen Vorhängen, dem Tragen eines Gehörschutzes, einer Sonnenbrille oder einer Schlafmaske sollte bitte unbedingt entsprochen werden. Andernfalls riskiert man eine einschneidende und schlimmstenfalls dauerhafte Zustandsverschlechterung des Patienten.


Literatur:

Hyde, Byron The Clinical and Scientific Basis of Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome, Nightingale Research Foundation, Canada 1992, s.a. National Alliance for Myalgic Encephalomyelitis, http://www.name-us.org/ResearchPages/ResEpidemic.htm#M.E._Epidemics

Dowsett EG, Colby J. Longterm sickness absence due to ME/CFS in UK schools: an epidemiological study with medical and educational implications.” J CFS 1997, http://www.tymestrust.org/pdfs/dowsettcolby.pdf

Ramsay, Melvin The Clinical Features of Myalgic Encephalomyelitis, 1986, http://www.cfids-me.org/ramsay86.html

Carruthers, B M, van de Sande, M I [...], and Stevens, S „Myalgic Encephalomyelitis: International Consensus Criteria“, Journal of INTERNAL MEDICINE 2011

Carruthers BM, van de Sande MI et al. MYALGIC ENCEPHALOMYELITIS – Adult & Paediatric: International Consensus Primer for Medical Practitioners”, 2012, S. 1, http://www.me-ireland.com/ICC%20primer.pdf

Paschen, Kai; Madler, Christian; Lehmann-Buri, Thomas;  Walther, W.; Meister, B. OP und Narkose bei Patienten mit Post-Polio-Syndrom: Empfehlungen zur Anästhesie bei Patienten mit durchgemachter Poliomyelitiserkrankung, 2010, http://www.polio-initiative-europa.de/medien/Ratgeber1_Download.pdf

Paschen, Kai Post-Polio Syndrom: Was der Arzt oder Physiotherapeut über PPS wissen sollte, 2009, http://www.polio-initiative-europa.de/medien/Ratgeber_PPS.pdf

Maes M, Twisk FNM „Why myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome (ME/CFS) may kill you: disorders in the inflammatory and oxidative and nitrosative stress (IO&NS) pathways may explain cardiovascular disorders in ME/CFS“, Neuro Endocrinol Lett. 2009

Peckerman A, LaManca JJ, Dahl KA, Chemitiganti R, Qureishi B, Natelson BH Abnormal impedance cardiography predicts symptom severity in chronic fatigue syndrome." Am J Med Sci. 2003



Lapp, Charles Advice for PWCs Anticipating Anesthesia or Surgery: RECOMMENDATIONS FOR PERSONS WITH CHRONIC FATIGUE SYNDROME (OR FIBROMYALGIA) WHO ARE ANTICIPATING SURGERY, o.J., http://drlapp.com/resources/advice-for-pwcs-anticipating-anesthesia-or-surgery/

Dowsett, Elizabeth SO YOU ARE GOING TO HAVE SURGERY?, 2001, http://www.25megroup.org/infomedical_dow_so-%20you_are_going_to_have_surgery.html

Calmes, Selma H.  Summary of Anesthesia Issues for the Post-Polio Patient, o.J.http://www.post-polio.org/edu/hpros/sum-anes.html

 

Underhill, Rosemary A., O`gorman, Ruth Prevalence of Chronic Fatigue Syndrome and Chronic Fatigue Within Families of CFS Patients”, Journal of Chronic Fatigue Syndrome 2006

Underhill, Rosemary A. Myalgic encephalomyelitis, chronic fatigue syndrome: An infectious disease", Medical Hypotheses 2015

Jason LA et al. „Estimating the prevalence of chronic fatigue syndrome among nurses.“ Am J Med. 1998

Pheby, Derek; Saffron, Lisa „Risk factors for severe ME/CFS, Biology and Medicine 2009

Goetz, Deborah L. S.; Mikovits, Judy A.; Deckoff-Jones, Jamie and Ruscetti, Francis W. „INNATE IMMUNE CHANGES IN THE PERIPHERAL BLOOD OF CHRONIC FATIGUE SYNDROME PATIENTS: RISK FACTORS FOR DISEASE PROGRESSION AND MANAGEMENT“, Chapter VI (pp. 91-130) in: Chronic Fatigue Syndrome, Nova Science Publishers, Inc. 2014

Twisk FNM, Maes M A review on Cognitive Behavorial Therapy (CBT) and Graded Exercise Therapy (GET) in Myalgic Encephalomyelitis (ME)/Chronic Fatigue Syndrome (CFS): CBT/GET is not only ineffective and not evidence-based, but also potentially harmful for many patients with ME/CFS”, Neuro Endocrinol Lett. 2009

Voss, Katharina: ME – Myalgische Enzephalomyelitis vs. Chronic Fatigue Syndrom: Fakten Hintergründe Forschung, MV Wissenschaft 2015

Bildnachweise:

Ilya Repin, Chirurg E.V. Pavlov im Operationssaal, www.commons.wikimedia.org
Ernst Ludwig Kirchner, Kranker in der Nacht, (c) VG Bild-Kunst
Michael Ancher, Das kranke Mädchenwww.commons.wikimedia.org
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Hieronymus Bosch, Das Steinschneiden (Detail), www.commons.wikimedia.org
Rembrandt van Rijn, Der ohnmächtige Patientwww.commons.wikimedia.org 
Thomas Eakins, The Gross Clinic (Die Operationswunde, Detail), www.commons.wikimedia.org
Ernst Ludwig Kirchner, Kranke Frau (Porträt der Erna Schilling), www.commons.wikimedia.org
Jean Geoffroy, Besuchstag im Hospitalwww.commons.wikimedia.org
Augsburger Pesttafel, 1607-1635, www.commons.wikimedia.org
Gustav Klimt, Medizin (Detail), www.commons.wikimedia.org
Félix Vallotton, Die Kranke, www.commons.wikimedia.org 

Katharina Voss, Copyright 2016

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