Mittwoch, 30. August 2017

#MEICC


Colleen Steckel, Gründerin der North Carolina & Ohio M.E./FM Support Group und ehrenamtlich für die ME-Aktivistenorganisation ME ADVOCACY tätig, hat einen sehr bemerkenswerten Vorschlag unterbreitet, um die Endlosdebatte über die korrekte Bezeichnung der Krankheit auf eine einfache und problemlos praktikable Weise zu beenden. Mit ihrer freundlichen Genehmigung durfte ich ihren Beitrag, der hier im Original zu lesen ist, ins Deutsche übertragen. Der Chicagoer ME-Aktivist Jerrold Spinhirne hat einen sehr lesenswerten Kommentar – hier in den Kommentaren im Original zu finden – zu Colleen Steckels Vorschlag geschrieben, den ich ebenfalls übersetzen durfte. Der britische ME-Aktivist Greg Crowhurst hat mir freundlicherweise erlaubt, sein eindrucksvolles Logo zu verwenden. Ich danke allen Dreien herzlich für ihre liebenswürdige Zustimmung!



Logo von Greg Crowhurst, http://stonebird.co.uk/


Zur Einführung in das Thema ein paar Worte vorweg:


Wie ich in meinem Buch und in meinen ersten drei Blogposts schon ausführlich auseinandergesetzt habe, ist die Diskussion über die korrekte Bezeichnung der Krankheit keineswegs überflüssig oder sogar schädlich für die öffentliche Wahrnehmung der Erkrankung, wie manchmal auch behauptet wird. Denn die derzeit gebräuchlichen Bezeichnungen wie ME oder CFS oder ME/CFS oder SEID sind jeweils mit unterschiedlichen Krankheitsdefinitionen und sogar verschiedenen Kernsymptomen verknüpft.

Damit aber eine korrekte Diagnose überhaupt gestellt werden kann, benötigt man bei einer Krankheit, deren Ursache bislang unbekannt ist und die keine allgemein anerkannten Biomarker hat, mit denen die Krankheit zweifelsfrei festzustellen ist, eine scharf umrissene Krankheitsdefinition, die nur diejenigen Patienten identifiziert, die auch tatsächlich an der Krankheit leiden.

Die neueste ME-Krankheitsdefinition sind die Internationalen Konsenskriterien (ICC, hier die deutsche Kurzfassung in der Übersetzung von Regina Clos) von 2011. Kernsymptom ist hier die neuroimmunologische Entkräftung nach Belastung – auch Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion (PENE) genannt. Es handelt sich bei diesem Symptom um die pathologische Unfähigkeit, bei Bedarf genügend Energie auf Abruf zu produzieren. Charakteristisch für die PENE ist eine signifikante, schnell einsetzende körperliche und/oder kognitive Erschöpfbarkeit als Reaktion auf bereits minimale Belastung, z.B. Alltagsaktivitäten oder einfache mentale Aufgaben, die zur völligen Entkräftung führen können. Mit der PENE sind vorwiegend Symptome aus dem neuroimmunologischen Bereich assoziiert. Das heißt, viele Krankheitssymptome verstärken sich nach Belastung, vor allem grippeähnliche Symptome, Schmerzen, neurokognitive Beeinträchtigungen und Symptome, die dem autonomen Nervensystem zuzuordnen sind. Die PENE kann sofort im Anschluss an die Aktivität auftreten oder zeitverzögert erst nach Stunden oder Tagen. Die Erholungszeit ist generell verlängert und erstreckt sich über 24 Stunden oder auch länger. Die rasche körperliche und mentale Erschöpfbarkeit ME-Kranker führt zu einer erheblichen Verminderung des vor Beginn der Erkrankung vorhandenen Aktivitätsniveaus.



Ferdinand Hodler, Valentine Godé-Darel im Krankenbett, www.commonswikimedia.org

Hingegen ist das Kernsymptom von CFS nach der Fukuda-Definition Müdigkeit (Fatigue). Die neuroimmune Entkräftung nach Belastung, die PENE, fehlt in der CFS-Definition als zwingend notwendiges Kriterium. Außerdem sind Depressionen, Somatisierungsstörungen und Angsterkrankungen in dieser Definition nicht ausgeschlossen.

Auch der SEID-Definition des Institute of Medicine (IOM) mangelt es an Ausschlussdiagnostik. Hier ist sogar überhaupt keine Ausschlussdiagnose erforderlich. Damit sind verhängnisvolle ärztliche Kunstfehler vorprogrammiert. Hinzu kommt noch, dass auch bei dieser Definition wieder eine ungeklärte chronische Müdigkeit (Fatigue) die zentrale Rolle spielt. Müdigkeit ist jedoch kein definierendes Krankheitssymptom von ME. Sie kann zwar zeitweise Begleitsymptom einer ME sein, doch zwingend ist das nicht. Auch Krebs- oder Multiple-Sklerose-Patienten können zeitweilig unter Müdigkeit leiden, aber der Zusatz Müdigkeit taucht weder in den Namen der verschiedenen Krebsarten noch bei MS auf.


Christian Krogh, Tired, www.commons.wikimedia.org

Die von den IOM-Kriterien geforderte Postexertional Malaise (PEM = Unwohlsein nach Anstrengung) ist außerdem lediglich ein subjektives Gefühl, jedoch kein objektivierbares Symptom im Gegensatz zur PENE, deren biomedizinische  Anomalien durch verschiedene Untersuchungen nachgewiesen werden kann. Zudem ist der Begriff malaise vollkommen unangemessen angesichts der bei den ME-Patienten pathologisch erniedrigten Belastungsschwelle mit ihren schwerwiegenden Folgen. Unwohl können sich nämlich auch dekonditionierte Menschen nach körperlichen Aktivitäten fühlen. Doch sie entwickeln 
nach Belastung keine Symptome mit Krankheitswert wie die ME-Patienten. 

Folglich stellen die ICC die derzeit treffendsten Kriterien, um eine Myalgische Enzephalomyelitis sicher zu identifizieren und von unspezifischen Erschöpfungszuständen oder Müdigkeit abzugrenzen. Um die Sicherheit aller Patienten zu gewährleisten – auch derer, die nicht an ME, sondern an Erschöpfung oder Müdigkeit leiden, die mit anderen Erkrankungen oder Störungen verknüpft ist –, sollte für Diagnose und Forschung künftig nur noch die ICC-Definition zum Einsatz kommen.

Nun möchte ich aber Colleen Steckel mit ihrem glänzenden Vorschlag zu Wort kommen lassen:


Zeit für #MEICC



Wenn die Augustausgabe 2017 des ME Global Chronicle veröffentlicht wird, werde ich den Jahrestag meiner vor 28 Jahren plötzlich ausgebrochenen Krankheit ME begehen. Obwohl ich es schwer finde, mir vorzustellen, dass ich mich so lange derart krank fühlen konnte und immer noch am Leben bin, weiß ich, dass ich nicht die Einzige bin, die seit über zwei Jahrzehnten krank ist, ohne wirkliche Behandlungen bekommen zu haben.

So lange krank zu sein, bedeutet auch, dass ich die Verwandlung meiner Originaldiagnose Chronic Fatigue Immune Dysfunction Syndrome (CFIDS) zu einer vagen Ermüdungserkrankung namens CFS und die wachsende Verachtung von Ärzten gegenüber meinem anhaltenden Krankheitszustand mitansehen musste.

Meiner Meinung nach ist es Zeit herauszufinden, wie viele Patienten die Internationalen Konsenskriterien (ICC) erfüllen. Wir können uns dann als MEICC-Patientengruppe vereinen, um die Fachleute im Gesundheitswesen in allen Ländern zu konfrontieren und darauf zu bestehen, dass sie anerkennen, dass die MEICC-Patienten nicht mit Patienten in einen Topf geworfen werden dürfen, auf die diese Kriterien nicht passen. Ich schlage vor, dass diese Gruppe den Hashtag #MEICC benutzt.

Wir haben jetzt die Wissenschaft, die unsere Forderungen absichert, dass wir nicht „nur müde" sind. Wir wissen definitiv, dass Aktivitäten außerhalb unseres begrenzten Rahmens gefährlich sind und zu Rückschlägen und Verschlechterungen führen.

Ich denke, es ist auch Zeit, dass wir erkennen, dass die schwer betroffenen ME-Patienten von Gesundheitsbehörden auf der ganzen Welt ebenso wie von zu vielen (Patienten-)Advokatengruppen völlig ignoriert worden sind und dass es Zeit ist, dass sie alle Informationen aufnehmen, die speziell auf die schwerkranken Patienten abgestimmt sind. Der #SevereME Awareness Day ist der 8. August.

Bei Überprüfung der Aktualisierung der CDC-Website vom 3. Juli 2017, die viele als einen Schritt vorwärts bejubelt haben, möchte ich darauf hinweisen, dass die Änderungen, die ich sehe, kosmetisch sind. Die Links für die Ärzte forcieren weiterhin abgestufte körperliche Belastung als eine Behandlungsoption.

Nachfolgend einiges von dem, was, wie ich sehe, auf der CDC-Website und bei zu vielen „CFS“-Unterhaltungen fehlt: 

  • Lähmung der Patienten
  • Muskelfehlfunktionen, die nicht durch Dekonditionierung entstehen, und die die Patienten ans Bett und/oder an den Rollstuhl fesseln. 
  • Herzanomalien, die zu vorzeitigem Tod führen können.
  • Herzfrequenzanomalien, die von einem EP-Kardiologen gesehen werden sollten und mit Medikamenten wie Corlanor (Ivabradin) behandelt werden können.
  • Immunsystem-Dysfunktion, die zur Reaktivierung von Viren, Nahrungsmittel- und Medikamentenunverträglichkeiten und einem höheren Krebsrisiko führt.
  • Energieproduktionsstörung auf zellulärer Ebene, die dazu führt, dass die Patienten nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen.
  • Defektes Sauerstoffaustauschsystem, wie von der Workwell Foundation beschrieben, das Toxizitätsprobleme verursachen kann, die angegangen werden müssen, um die Lebensqualität zu verbessern.
  • Wie wahrhaft behindernd diese Krankheit ist. Den fortgesetzten Aussagen à la „müde nach dem Einkauf", die von der CDC kommen, muss entgegengetreten werden. Diejenigen von uns, die am unteren Ende der Funktionsskala sind, können selten einkaufen gehen und wenn wir es tun, sind wir nicht nur „müde“, sondern es verursacht einen schweren Zusammenbruch.

Erfüllen Sie die Internationalen Konsenskriterien?

Hier ist ein einfacher Fragebogen, den Sie als Leitfaden verwenden können: http://bit.ly/2gsuEhM (ICC-Kurzfassung in der deutschen Übersetzung von Regina Clos hier.)

Colleen Steckel, Gründerin der North Carolina & Ohio M.E./FM Support Group http://bit.ly/2uuy3IB


Kommentar von Jerrold Spinhirne:



Ein ausgezeichneter Artikel von Colleen Steckel, der von entscheidender Bedeutung ist. Die ME-ICC von 2011 (Internationale Konsenskriterien) und der IC-Primer von 2012 (International Consensus Primer for Medical Practitioners für Diagnose und Behandlung von Jugendlichen und Erwachsenen mit Myalgischer Enzephalomyelitis) – die die neurologische Krankheit Myalgische Enzephalomyelitis (ME) von dem allgegenwärtigen Symptom chronischer Ermüdung und von schlecht definierten Diagnosen wie CFS, „ME/CFS", „CFS/ME" und dem lächerlichen neuen „SEID" separieren – müssen allgemein für die Diagnose und Forschung von ME angenommen werden.


Der gegenwärtige absurde Müdigkeitserkrankungs-Unsinn dauert seit 30 Jahren an. Es muss jetzt aufhören, bevor mehr Geld, Zeit und wertvolle Leben verschwendet werden. Es ist tragisch für Menschen mit ME, eine Zusammenstellung von allzu inklusiven, unspezifischen Kriterien – die Fukuda-CFS-Kriterien der CDC – durch noch ein weiteres Set selbiger Art ersetzt zu sehen – die „ME/CFS"(„SEID")-Diagnosekriterien des IOM. 

Das US Department of Health and Human Services und seine Agentur die CDC haben die unscharfe Abfalleimerdiagnose des Chronischen Müdigkeitssyndroms (CFS) genommen und durch eine noch breitgefächertere Abfalleimerdiagnose namens „systemische Anstrengungs-Intoleranz-Krankheit" („SEID") ersetzt. Wann werden Ärzte und Forscher endlich aufhören, diese Torheit zu erlauben? ME ist eine separate und einander ausschließende neurologische Erkrankung, für die chronische Müdigkeit nicht einmal ein diagnostisches Symptom ist.

Die niedrige Messlatte für die Diagnose durch die IOM-Kriterien und die Einbeziehung von psychiatrischen Störungen wird bald zu weiterem Verlust an Glaubwürdigkeit führen, zu mehr „Wunderkuren" und mehr Verhaltensbehandlungsempfehlungen für „ME/CFS" nach Art des IOM. Wie wird irgendjemand in der Lage sein, nach den Kanadischen Kriterien diagnostiziertes „ME/CFS", das mit hoher Wahrscheinlichkeit ME ist, von IOM-diagnostiziertem „ME/CFS", das eine primär depressive, Angst- oder somatoforme Störung sein könnte, zu unterscheiden?

Die Implementierung der IOM-Diagnosekriterien, die nun von der CDC empfohlen wird, wird in einem völligen Chaos resultieren. Offensichtlich haben zu wenige Fachleute auf dem Gebiet etwas aus dem Versagen der letzten 30 Jahre gelernt, um irgendeinen bedeutsamen Fortschritt zu machen. 

Diese fortgesetzte Verwirrung wird der Anerkennung, Diagnose und Forschung der eigenständigen neurologischen Krankheit Myalgische Enzephalomyelitis schaden, die unweigerlich mit der neuen, vom IOM kreiierten und von der CDC befürworteten Müdigkeitssuppe vermengt werden wird. ME erfordert eine eigene Diagnose- und Forschungsfalldefinition, getrennt von diversen unklaren, auf Müdigkeit basierenden Leiden wie CFS und IOM-diagnostiziertes „ME/CFS" – nämlich die #MEICC.


Katharina Voss, Copyright 2017