Sonntag, 20. März 2016

They hate you!


Auf einer Konferenz in New York City im Dezember 2013 wurde ein frisch pensionierter Wissenschaftler der National Institutes of Health (NIH) von einem ME-Patienten gefragt, was die NIH-Führung denn nun wirklich über unsere Krankheit denke. Der Wissenschaftler ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Nachdem er seine Worte wohl abgewogen zu haben schien, antwortete er ernst: „They hate you!“ Es war die wohl ehrlichste Antwort, die ein ME-Patient je von einem NIH-Wissenschaftler bekommen hat. [Johnson, 2014] *

Doch nun hat die NIH-Leitung offenbar endlich ihr Herz für unsere Krankheit entdeckt, denn sie plant eine inneruniversitäre Studie zur Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom. Eine tolle Sache, denn nach Jahrzehnten der Missachtung und Vernachlässigung werden die ME-Kranken schließlich doch ernst genommen. Die 40 Studienteilnehmer sollen nach den Kanadischen Konsenskriterien rekrutiert werden, unter post-exertional malaise (PEM) leiden und als Sahnehäubchen obendrauf: Es sollen nur Patienten mit post-infektiöser ME an der Studie teilnehmen dürfen. Klingt doch super, oder?

Was gibt es also zu meckern?

Es besteht der begründete Verdacht, dass die Ergebnisse der Studie zur Untermauerung einer psychogenen bzw. psychosomatischen Verursachungshypothese dienen und von dementsprechenden Therapieempfehlungen wie Aktivierung (GET), Kognitive Verhaltenstherapie (CBT), Schmerzmedikamenten und Antidepressiva sekundiert werden sollen.

Kann uns das nicht völlig schnuppe sein, was in den USA in Sachen ME passiert?

Leider nein, denn die Resultate einer NIH-Studie werden weltweit die Gesundheitspolitik zu dieser Krankheit beeinflussen und sich damit auf alle ME-Kranken auswirken. Und obwohl das Studiendesign auf den ersten flüchtigen Blick so vielversprechend aussieht, gibt es eine Menge Haken.



Was ist faul an der Studie?

Nehmen wir zunächst einige Mitglieder des Forscherteams unter die Lupe. Studienleiter ist der Neurologe und Spezialist für Neuroimmunologie und Neuroinfektiologie Dr. Avindra Nath, Abteilung National Institute of Neurological disorders and Stroke (NINDS). Seine Forschungsinteressen sind auf das Verstehen der Pathophysiologie retroviraler Infektionen des Nervensystems und die Entwicklung neuer diagnostischer und therapeutischer Ansätze fokussiert. Das klingt eigentlich äußerst vielversprechend. Aber leider kann man wohl von vornherein ausschließen, dass die Proben der Teilnehmer auf bislang nicht identifizierte Retroviren untersucht werden. Ob sie zumindest auf humane endogene Retroviren (HERV-K) getestet werden, eines der Spezialgebiete Naths, bleibt nur zu hoffen. Denn das könnte zu Behandlungsstudien mit antiretroviralen Medikamenten führen. Doch auch das ist wohl mehr als unwahrscheinlich. (Nath hat in Hirnproben verstorbener  ALS-Patienten eine vermehrte Expression von HERV-K gefunden. Auch bei HIV-Infektionen ist HERV-K häufig aktiviert, wie diese Arbeit von Nath zeigt.)

Klinischer Leiter der Studie ist Dr. Brian Walitt vom National Institute of Nursing Research (NINR). Walitts Forschungsinteressen sind, nach Angaben der NIH, „Schmerzstörungen und ähnliche Körperwahrnehmungsstörungen (d.h. Fibromyalgie und Chronic Fatigue)“, sowie „die sozialen Konstrukte Erkrankung und Krankheit“, außerdem „entzündliche Gelenkschmerzen und Autoimmunstörungen“. (Ü.d.A.)

Was haben Walitts Interessen zu bedeuten?

Walitt, der in seinen Arbeiten häufig Simon Wessely und Per Fink zitiert, hält Fibromyalgie und Chronic Fatigue (und ME sowie „CFS“) augenscheinlich für bloße Körperwahrnehmungsstörungen. Auch Autoimmunkrankheiten sind für ihn nichts weiter als „Störungen“, ein Begriff, der in der Regel nur auf psychiatrische Krankheitsbilder angewandt wird. Seine Beschäftigung mit Erkrankung und Krankheit als soziale Konstrukte lässt ebenfalls tief blicken und zeigt, welch Geistes Kind Walitt ist. Zum einen ist hier die Nennung beider Begriffe, nämlich von Erkrankung (illness) und Krankheit (disease) aufschlussreich. Die Psychiater der britischen Wessely School machen einen Unterschied zwischen illness und disease. Illness bezeichnet ihrer Auffasssung nach lediglich ein Verhalten oder ein subjektives Gefühl, sich unwohl zu fühlen. Nur eine objektiv diagnostizierbare disease wird als eine richtige Krankheit akzeptiert und nur derjenige, der an einer disease erkrankt ist, erfährt Legitimation als Kranker. Walitt unterscheidet wohl ebenso zwischen illness und disease, wie der Folie einer seiner Präsentationen zu entnehmen ist, wo er schreibt, „Fibromyalgie könnte eher eine Erkrankung als eine Krankheit sein.“ (Ü.d.A., Video, Min. 2:16) (Übrigens ist Dr. Avindra Nath so ziemlich allein auf weiter Flur, wenn er in Bezug auf „CFS“ von disease spricht, also von einer echten Krankheit, während fast alle seine NIH-Kollegen nur von disorder oder illness sprechen.)

Offensichtlich geht Walitt sogar noch einen Schritt weiter als die Wessely School-Vertreter. Denn er scheint sowohl Erkrankung als auch Krankheit für soziale Konstrukte zu halten. Mit dem Begriff Konstrukt legt Walitt das Gewicht auf das empirisch nicht Erkennbare, auf das, was sich dem Auge des Untersuchenden entzieht. Erkrankung und Krankheit zu sozialen Konstrukten zu erklären, bedeutet im Grunde genommen, ihre objektive Existenz anzuzweifeln und diese Bezeichnungen auf eine bloße gesellschaftliche Übereinkunft, was unter Erkrankung und Krankheit zu verstehen ist, zu verkürzen, die sich auf keine objektiv bestimmbare Wirklichkeit stützen kann.



Was denkt Walitt noch so, z.B. über Fibromyalgie?

Obwohl Ätiologie und Pathogenese der Fibromyalgie bislang ungeklärt sind, behauptet Walitt zu wissen, es handele sich um „eine klinisch gut definierte chronische Erkrankung mit einer biopsychosozialen Ätiologie“. (Ü.d.A.) [Walitt, Häuser et al., 2015] „Fibromyalgie scheint eine somatoforme Störung mit bemerkenswerten Ähnlichkeiten zur Neurasthenie zu sein“, schreibt er. (Ü.d.A.) [Wolfe und Walitt, 2013] Fibromyalgie sei „eng verbunden mit und oft nicht zu unterscheiden von der Neurasthenie“, ihr „Status als "echte Krankheit" anstatt einer psychokulturellen Krankheit … (werde) durch soziale Kräfte untermauert, wozu die Unterstützung durch die offiziellen Kriterien, Patienten und Berufsorganisationen, Pharmaunternehmen, Erwerbsunfähigkeitsberechtigung und die akademischen und Rechtsgemeinschaften gehört.“ (Ü.d.A.) [Wolfe und Walitt, 2013]

Ein klares Statement, dass Walitt Fibromyalgie nicht für eine echte Krankheit hält, sondern für eine soziokulturelle Verabredung, geschaffen, um sekundären Krankheitsgewinn abzuschöpfen und pekuniäre Interessen diverser Berufsstände zu sichern. Einer wie Walitt, der allem Anschein nach seinen „Untersuchungsgegenstand“, nämlich chronisch kranke Menschen hasst, liebäugelt selbstredend auch mit der Hypothese, dass (retrospektiv selbstberichteter) Kindesmissbrauch einen Risikofaktor an Fibromyalgie zu erkranken darstelle bzw. bei der Genese und dem Schweregrad der Fibromyalgie eine signifikante Rolle spiele. [Häuser, Walitt et al. 2015; Walitt et al., 2016] (Walitt veröffentlichte übrigens bereits mehrfach gemeinsam mit dem deutschen Psychosomatiker Winfried Häuser.)

Noch doller wird es aber, wenn Walitt über Fibromyalgie spricht. Die Global Academy for Medical Education hat ein Video-Interview mit ihm gedreht, das entlarvender nicht sein könnte. Hat man je einen Wissenschaftler einen derartigen Mist zusammenfaseln hören? Seinem Gestammel, unterbrochen von unzähligen „ähs“ und „ähms“ und leeren Worthülsen wie „verstehst du?“ und „oder?“ sowie unterstützt von Folien seiner Präsentation, entnehmen wir, dass er Fibromyalgie als ein „modernes Narrativ für eine Reihe persistierender, belastender und stereotyper Sinneserfahrungen“ ansieht, das „nicht gültig zu sein scheint“. (Ü.d.A.) Man solle „erkennen, dass diese atypischen Dinge halt im Bereich des Normalen sind, dass du nicht krank bist, schlecht oder schwach, dass du es nur mit den Schwierigkeiten zu tun hast, ein Mensch zu sein.“ ** (Ü.d.A.)

(Merken solche Wissenschaftler eigentlich, in was für eklatante Widersprüche sie sich verwickeln? Oder ist ihnen das völlig wurscht, Hauptsache die Forschungsgelder fließen und irgendwann winken fette Verträge mit Pharmakonzernen oder gut honorierte Posten bei staatlichen Institutionen? Denn man kann doch nur schließen, dass Walitt seinen eigenen Hypothesen zufolge Kindesmissbrauch für einen Bereich des Normalen" hält und ihn zu den Schwierigkeiten" zählt, ein Mensch zu sein." Er sollte sich vielleicht diesen Trailer von "M.E. The Hidden Truth" anschauen. Danach kann er sich ja noch einmal überlegen, ob der Alltag der Schwerkranken nur ein Narrativ für eine Reihe persistierender, belastender und stereotyper Sinneserfahrungen“ ist!)


  

Zeit, einmal tief Luft zu holen.

Was will uns Walitt hier verklickern? Die Symptome der Fibromyalgie, eine – wohlgemerkt – organische Krankheit, die im ICD unter den Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes klassifiziert ist, seien nichts weiter als der unzulässige Versuch der Betroffenen, die normalen Beschwerlichkeiten, die das menschliche Leben nun einmal so mit sich bringt, zu Beschwerden mit Krankheitswert umzudeuten und diese Umdeutung als sinnstiftende Story für die eigene Unfähigkeit, mit den normalen Anforderungen des Lebens zurechtzukommen, verkaufen zu wollen?

Schwer behindernde chronische Muskel- und Gelenkschmerzen, Müdigkeit, Ein- und Durchschlafstörungen, Schwellungsgefühle, Magen-Darm-Probleme, Reizblase, Herz- und Atemprobleme usw. sind demzufolge also ganz normale Begleiterscheinungen des Lebens? Und Brian Walitt der einzig legitime Interpret unserer körperlichen Leiden?

Puhhhh – wie empathielos muss man sein, um sich zu solch kruden Hypothesen aufzuschwingen? Dass Mr. Walitt nicht gerade vor Empathie strotzt, tritt im Video überdeutlich zutage. Sein Sprechen ist von einer nachgerade bizarr fassadenhaften Mimik begleitet und einem irritierend gekünstelten Lächeln, das diese Bezeichnung nicht einmal annähernd verdient. (Man ist versucht, von einer Als-ob-Persönlichkeit zu sprechen.) Und diesen Freak hat man zum klinischen Leiter einer NIH- Studie auserkoren, einen, der sich schon im Voraus als Cheerleader“ für die Studienteilnehmer feiert!

Dass Walitt selbstverständlich auch „CFS“ für eine somatoforme Störung hält, hat er längst zu Protokoll gegeben. [Walitt, Saligan et al., 2015] Doch es ist anzunehmen, dass er, trotz gegenteiligen Lippenbekenntnisses, in Wahrheit über nicht umstrittene Krankheiten nicht sehr viel anders denkt. Für ihn ist nämlich „jegliches Erleben … ein psychosomatisches Erleben.“ (Ü.d.A., Video) Man könnte noch seitenlang Brian Walitts Ergüsse, seine Bankrotterklärung als Wissenschaftler, kommentieren, denn jeder einzelne seiner Sätze ist eine Ohrfeige für die Kranken. Doch leider gibt es noch mindestens zwei weitere Knalltüten zu enttarnen und auch andere Fallstricke der geplanten Studie aufzuzeigen. (Zu Brian Walitts Äußerungen im Video siehe auch diesen Blog von Jeannette Ketterle Burmeister.)



Welche Ansichten vertritt Dr. Fred Gill?

2011 hielt Fred Gill, Internist, Infektiologe und Chefarzt des internistischen Beratungsservice des Klinikums der NIH, einen Vortrag, wo er konstatierte, „CFS“ sei ein sehr ähnliches Syndrom wie Neurasthenie. Er sprach sich für eine strikte Begrenzung biomedizinischer Tests bei solchen Patienten aus und warnte, jegliches positive Testergebnis sei vermutlich ein falsch positives Ergebnis und verursache nur unnötig Ängste. Als Therapien empfahl er GET und CBT sowie trizyklische Antidepressiva. Alles wie gehabt!

Wer ist Dr. Leorey Saligan?

Leorey Saligan – Dr. der Pflegewissenschaften, der mehrere Arbeiten gemeinsam mit Walitt publiziert hat – forscht zu Fatigue bei allen möglichen Krankheiten und kam dabei zu der bahnbrechenden Erkenntnis, dass Menschen, die zum Katastrophisieren neigen, diesem Symptom unnötige Aufmerksamkeit schenken, was ihre Motivation bezüglich ihrer Aktivitäten des täglichen Lebens beeinflusse und Schwarzmalerei zu einem idealen Verhaltensmarker für die Central Fatigue mache. Kein Kommentar!

Welche Krankheitsdefinition müssen die Probanden erfüllen?

Zunächst war die Rede von den operationalisierten Fukuda-Kriterien, der sogenannten Empirischen Definition von William Reeves et al. Diese Definition ist so verwässert, dass mit ihr auch Menschen, die nur in ihrer sozialen Funktionsfähigkeit oder in ihrer Emotionalität beeinträchtigt sind, nicht aber in ihrer physischen Funktion als „CFS“-Kranke identifiziert werden können. Nach massiven Patientenprotesten will man nun offenbar die Kanadischen Konsenskriterien (CCC) zugrundelegen. (Sicher scheint das aber nicht, möglicherweise werden doch die Empirischen Kriterien angewandt. Siehe dazu diesen Blog von Mary Schweitzer.)

Aber leider hat man versäumt, „ME/CFS“-Spezialisten in die Probandenauswahl einzubinden. Von den Experten, welche die Patientenrekruitierung überwachen sollen, besitzt keiner klinische Erfahrung in der Diagnostik von „ME/CFS“. (Siehe auch diesen Blog von Erica Verillo.)

Die Kanadischen Konsenskriterien geben zudem – anders als die Internationalen Konsenskriterien (ICC) und die Ramsay-Definition – nicht post-exertional neuro immune exhaustion (PENE) und pathologische Muskelerschöpfbarkeit als Kernsymptomatik an, sondern Fatigue. Fatigue ist jedoch kein Kernsymptom der ME, allenfalls ein sporadisch oder phasenweise auftretendes Begleitsymptom, das auch viele andere schwere chronische Krankheiten kennzeichnet.

Die Patienten sollen zwar auf post-exertional malaise (PEM) untersucht werden, aber offenbar – so geht es jedenfalls aus der Ankündigung hervor – erst während ihres Klinikaufenthaltes. Das würde heißen, dass nur bereits für die Studie rekrutierte Patienten auf PEM untersucht werden sollen und PEM gar kein Eingangskriterium darstellt, wie an anderer Stelle nahegelegt. Doch ein durch validierte Messmethoden objektivierter PEM-Befund – und nicht etwa nur eine selbstberichtete PEM – wäre ausschlaggebend, um die richtigen Patienten zu erfassen.

Denn so etwas wie PEM wird auch für die Neurasthenie beschrieben, die ja ein Steckenpferd von mindestens zwei Vertretern des Forscherteams ist. Wie bereits erwähnt, halten sowohl Fred Gill als auch Brian Walitt „CFS“ bzw. Fibromyalgie für die gleiche oder eine bemerkenswert ähnliche Erkrankung wie Neurasthenie. Hinsichtlich PEM ist im ICD-10 unter dem Code F.48 Folgendes zu Neurasthenie notiert: „Bei der anderen Form (der Neurasthenie) liegt das Schwergewicht auf Gefühlen körperlicher Schwäche und Erschöpfung nach nur geringer Anstrengung, begleitet von muskulären und anderen Schmerzen ….“ [DIMDI, 2016; WHO, ICD 10] Hier ist zwar nur von Gefühlen körperlicher Schwäche und Erschöpfung die Rede, doch um gefühlte Schwäche von pathologischer Schwäche zu unterscheiden, muss letztere mit Hilfe des an zwei aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführten kardiopulmonalen Exercise-Test (CPET) – nach dem Protokoll des Sportmediziners Christopher Snell – objektiviert werden. Nur so können mild und moderat an ME Erkrankte zweifelsfrei von Dekonditionierten, Unmotivierten oder Patienten mit anderen Erkrankungen unterschieden werden.

Können und wollen die NIH denn überhaupt eine homogene Patientenkohorte mit „echten“ ME-Kranken zusammenstellen? Es bestehen begründete Zweifel am Können und Wollen. Denn die Kanadischen Konsenskriterien mussten der NIH erst von der Patientengemeinde abgerungen werden, die Forschenden sind keine erfahrenen Diagnostiker und auch die geplanten Testungen sind nicht unbedingt ME-spezifisch und nehmen wenig Bezug auf bereits bestehende Forschungsergebnisse. Dazu gleich mehr, aber zunächst wollen wir uns noch die Kontrollgruppen anschauen.




Welche Kontrollgruppen sind vorgesehen?

Ursprünglich hatte man diese beiden Kontrollgruppen vorgesehen: erfolgreich therapierte, symptomfreie Lyme-Patienten und Patienten, die an einer sogenannten funktionellen Bewegungsstörung (functional movement disorder=FMD=psychogene Bewegungsstörung oder auch Konversionsstörung motorischen Typs) leiden. Dieser Plan ließ bei den ME-Aktivisten alle Alarmglocken schrillen: Warum keine Kontrollgruppe Gesunder? Warum Kontrollgruppen zweier beinahe ebenso kontrovers wie ME diskutierter Krankheiten? Welche Absicht könnte hinter der Auswahl dieser Gruppen stecken?

Borreliose-Tests sind oftmals nicht sehr zuverlässig. Es werden Tests angeboten, die falsch positive Ergebnisse anzeigen. Ebenso welche, die falsch negativ ausfallen können. Ein Teil der Infizierten lässt sich gar nicht über die marktüblichen Tests identifizieren, weil bei diesen Patienten die Antikörperbildung gestört ist. Ob die Patienten der Kontrollgruppe tatsächlich an Borreliose erkrankt waren, bleibt also fraglich.

Das Gleiche gilt für die andere Kontrollgruppe. Deren Patienten sind zwar mit einer psychiatrischen Diagnose belegt, doch sind sie je darauf untersucht worden, ob womöglich neuropathische Viren oder andere pathogene Erreger für ihre Erkrankung verantwortlich sind? Ganz sicher nicht. Psychogene bzw. funktionelle Bewegungsstörungen (FMD) gehören zu den medizinisch ungeklärten Symptomen. Ob es sich bei ihnen, wie bislang angenommen, nicht etwa um ein hysterisches Phänomen, eine Artefakt-Krankheit, eine somatoforme Störung oder Simulation handelt, sondern um Krankheitszeichen einer organpathologischen Veränderung, ausgelöst durch pathogene Erreger, Toxine und/oder genetische Einflüsse, ist weitgehend ungeklärt.

Ebenso ungeklärt ist die Ätiologie der ME. Vergleicht man aber Gruppen von Patienten miteinander, bei denen jeweils unklar ist, woran sie erkrankt sind bzw. was die eigentliche Ursache ihrer Erkrankung ist, könnten sich die Ergebnisse gegenseitig aufheben. D.h. die gemessenen Parameter könnten für alle Gruppen ähnlich ausfallen, zumindest die der ME-Patienten und die der FMD-Patienten, womit dann quasi nachgewiesen wäre, dass ME ebenfalls eine somatoforme Störung, Hysterie und/oder Simulation ist.

Die NIH hat inzwischen dem Druck der Patientenproteste nachgegeben und statt der FMD-Kontrollgruppe eine Gruppe gesunder Kontrollen vorgesehen. Es war völlig unverständlich, dass die NIH zunächst keine Kontrollgruppe Gesunder vorgeschlagen hatten - bei einer Studie, deren erklärtes Ziel es ist, die "klinischen und biologischen Charakteristiken von ME/CFS" zu verstehen. Wenn man die klinischen Auffälligkeiten und biologischen Anomalien einer Krankheit herausfinden möchte, gehört es doch ganz selbstverständlich zum wissenschaftlichen Procedere, Kranke mit Gesunden zu vergleichen. 

Warum, so fragt man sich unwillkürlich, brauchen die NIH eigentlich immerzu Nachhilfe von den Patienten? Ist es so schwer, als Wissenschaftler von selbst auf die Idee zu kommen, eine Patientenkohorte mit einer Gruppe gesunder Kontrollen zu vergleichen? Warum müssen die Patienten der NIH so etwas nahelegen? 

Die ehemaligen Lyme-Patienten bleiben jedoch als Vergleichsgruppe in der Studie. Ein Blick auf Arbeiten der Lyme-Expertin des Forscherteams Dr. Adriana Marques gibt uns vielleicht einen Hinweis auf die Gründe, weshalb an ihr festgehalten wird. Marques bezweifelt nämlich, dass chronische Borreliose durch eine persistierende Infektion mit Borrelien verursacht wird. Antibiotika-Behandlungen zeigen ihrer Auffassung nach wenig Nutzen und bergen signifikante Risiken, wohingegen die Gabe von Placebos ebenso wirksam sei. [Marques, 2008; Marques, 2008; Marques et al., 2013]

Könnte chronische Borreliose also mit Hilfe von Marques Arbeiten als somatoforme Störung oder als „falsche Krankheitsüberzeugung“ nach einer längst abgeklungenen Infektion uminterpretiert werden, so wie es die Wessely School und ihre internationalen Adepten, zu denen auch deutsche Psychiater und Psychosomatiker gehören, für ME formulieren? Werden womöglich nur erfolgreich mit Placebos therapierte Vergleichskontrollen ausgesucht, obwohl deren Genesung vielleicht gar nicht den Placebos, sondern einer Spontan-Remission oder anderen, noch unverstandenen Mechanismen zuzuschreiben ist?

In diesem Fall würde die Lyme-Kontrollgruppe als eine quasi psychiatrische Kontrollgruppe umgenutzt werden, wobei dann zu befürchten wäre, dass deren Therapieerfolg mittels Placebos einer künftigen Behandlungsstrategie für „ME/CFS“ den Weg ebnen soll.

Hätten die NIH in den letzten Jahrzehnten mehr für die ME-Patienten getan, müsste man nicht wild über ihre verborgenen Absichten spekulieren. Doch nach mehr als 30 Jahren Missachtung und Vernachlässigung, kann man das Beharren der NIH auf einer Kontrollgruppe von Erkrankten, die einen beinahe ebenso verzweifelten Kampf um die Anerkennung ihrer Krankheit führen und fast genauso häufig von Psychopathologisierung betroffen sind, nur mit Misstrauen beäugen. (Meine Anfrage bei der NIH, womit die Patienten der Lyme-Kontrollgruppe erfolgreich behandelt wurden, blieb bislang unbeantwortet.) *** 



Welche Tests sollen durchgeführt werden?

Eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Gehirns wird angefertigt, Speicheltests auf Viren werden durchgeführt, Stresshormone sowie Mund- und Darmbakterien bestimmt, die Handkraft wird gemessen, Körperfunktionen wie Schwitzen und Atmen sollen untersucht werden, Blutdruck im Stehen, Sitzen und Liegen, die Herzschlagrate, Blutzellen, Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit soll entnommen werden und jedem Probanden wird ein Aktivitätsmesser ausgehändigt, den er bei sich zuhause eine Woche lang tragen muss. In dieser Woche muss auch ein „Fatigue-Tagebuch“ geführt werden.

Transkranielle Magnetstimulation soll eingesetzt werden, um die Gehirnaktivität zu beeinflussen und zu untersuchen, welche Änderungen der Erregbarkeit des Gehirns zusammen mit Muskelermüdung auftreten. Während der MRT bekommen die Probanden Aufgaben gestellt, um die Veränderungen der Gehirnaktivität bei verschiedenen Arten von Fatigue zu untersuchen. Nachts werden die Patienten während ihres stationären Aufenthaltes an Herzmonitoren angeschlossen, zweimal soll ein Fahrrad-Belastungstest erfolgen.

Außerdem gibt es Denk- und Gedächtnistests zu absolvieren sowie Fragebögen über das Befinden auszufüllen.

Wie sinnvoll sind diese Test, um ME zu erforschen?

·       Ein funktionelles MRT könnte die kognitiven Defizite Erkrankter objektivieren, ist jedoch problematisch, wenn die beobachteten pathologischen Veränderungen und Dysfunktionen der Probanden nicht von denen unterschieden werden, die durch psychiatrische Erkrankungen entstehen können.
·       Virentests sind nur dann sinnvoll, wenn nach bislang unbekannten viralen Erregern gesucht wird.
·       Bakterientests sind nur sinnvoll, wenn nach bislang unbekannten Bakterien gefahndet wird.
·       Stresshormone unter stressbelasteten Umständen (Klinikaufenthalt!) zu prüfen, führt eventuell zu gegenteiligen, ME-untypischen Ergebnissen.
·       Handkraftmessung ist allenfalls bei Schwer- und Schwerstkranken sinnvoll und hat ohnehin insgesamt wenig Aussagewert.
·       Eine Untersuchung auf Körperfunktionen wie Schwitzen und Atmen ist dann heikel, wenn häufiges und vermehrtes Schwitzen sowie Hyperventilation nicht als ME-typisches pathophysiologisches Phänomen, sondern als Zeichen einer psychischen oder psychosomatischen Störung interpretiert werden.
·       Ähnliches gilt für die Herzschlagraten- und Blutdruckmessung. Hier stellt sich die Frage, ob die Resultate als pathophysiologische Anomalien oder aber als Hinweis auf eine Dekonditionierung beurteilt werden.
·       Eine Untersuchung der Blutzellen kann durchaus Anomalien zeigen, aber ob sich in einer so kleinen Kohorte bei genügend Teilnehmern die gleichen Abweichungen finden und sich dadurch statistisch relevante Resultate nachweisen lassen, ist zweifelhaft.
·       In der Regel bleiben Liquoruntersuchungen bei ME-Patienten ergebnislos. Es kommt aber auch darauf an, wonach man sucht. Hier wäre - ähnlich wie auch bei den Blutuntersuchungen - die Frage, ob z. B. nach Anzeichen einer veränderten Immunsignatur gesucht werden soll, wie das Judy Mikovits et al., Sonja Marshall-Gradisnik et al. und Mady Hornig et al. bereits vorgemacht haben. Doch dann bleibt immer noch offen, ob die Anomalien zur organpathologischen Erklärung für die kognitiven Dysfunktionen und die Muskeldysfunktion herangezogen werden, oder ob sie eine wie auch immer geartete „Psychohypothese“ untermauern sollen.
·       Ein Aktivitätsmesser ist sehr sinnvoll, um zu dokumentieren, wie behindernd die Krankheit ist. Wenn der organpathologische Charakter der Krankheit allerdings zur Disposition steht und die Auswertung der Daten nur dazu benutzt werden soll, den Kranken eine durch Inaktivität heraufbeschworene Dekonditionierung zu attestieren, richtet sich der Einsatz eines solchen Messinstruments als Waffe gegen die Patienten.
·       Ein „Fatigue-Tagebuch“ zu führen ist nur dann sinnvoll, wenn die darin vorgegebenen Bezeichnungen und Kategorieneinteilungen nicht für psychologische Interpretationen taugen. Die Tatsache, dass hier von „Fatigue“ gesprochen wird, deutet bereits darauf hin, dass mit schwammigen und/oder unzutreffenden Begriffen gearbeitet wird, die auch psychologisch gedeutet werden könnten.
·       Das gleiche gilt für Fragebögen, die die Befindlichkeit dokumentieren sollen.
·       Ob die Transkranielle Magnetstimulation geeignet ist, die Ursache für die Muskelerschöpfbarkeit zu eruieren, erscheint zumindest fraglich.
·       Die nächtliche Überwachung mit einem Herzmonitor wird vermutlich nur wenig zu einem Erkenntnisgewinn beitragen.
·       Der Fahrradbelastungstest wird nur dann die pathologische Zustandsverschlechterung nach Belastung objektivieren, wenn er nach dem Protokoll von Christopher Snell durchgeführt wird.
·       Denk- und Gedächtnistests können die kognitiven Probleme der Erkrankten dokumentieren. Es bleibt die Frage offen, ob schlechte Testergebnisse dann organpathologischen oder aber psychischen Faktoren zugeschrieben werden.

Welche Patienten können teilnehmen?

An der Fülle der Tests, von denen die meisten während eines einwöchigen Klinikaufenthaltes, einige während eines zwei- oder dreitägigen Screenings durchgeführt werden, kann man bereits ablesen, dass in dieser Studie nur mild, allenfalls noch moderat Erkrankte teilnehmen können. Aber schon für Letztere ist ein solcher Untersuchungsmarathon, zudem in einem Klinikbetrieb, der unzählige, für den Kranken kaum zu verarbeitende Reize birgt und wenig Raum für Erholung lässt, nur schwer durchzustehen, ohne eine anschließende massive Zustandsverschlechterung zu erleiden. Hat man denn bei der NIH noch immer nicht begriffen, mit welcher Krankheit man es zu tun hat? Oder will man es nicht begreifen?

Dass Schwer- und Schwerstkranke seit Jahrzehnten von Studien ausgeschlossen sind, weil man ihnen nicht die überlebensnotwendigen Bedingungen dafür schafft, ist ohnehin ein großer Fehler. Auch die Patienten von epidemischen und Cluster-Ausbrüchen wurden bisher viel zu wenig untersucht. Denn welche Patienten, wenn nicht diese, sollten einen neuen Erkenntnisgewinn bringen?




Grundsätzlich ist es nicht verkehrt, dass die Erkrankungsdauer der Teilnehmer auf einen Zeitraum von 5 Jahren begrenzt wird. Auf diese Weise lässt sich eine homogenere Kohorte zusammenstellen. Doch die Aufnahme von Patienten, die erst seit 6 Monaten erkrankt sind, ist ganz und gar nicht unproblematisch. Denn diese Patienten haben die akute Krankheitsphase womöglich noch gar nicht hinter sich gebracht, die chronische beginnt in der Regel erst nach diesen 6 Monaten. Dabei ist es noch keineswegs ausgemacht, ob der Patient sich nach der akuten Phase nicht wieder langsam erholt. Es ist nach 6 Monaten oft noch nicht einmal klar, ob der Patient überhaupt an ME erkrankt ist oder aber an einem Postviralen Fatiguesyndrom. Ob jedoch diejenigen, die die Patientenrekrutierung überwachen sollen, ein Postvirales Fatiguesyndrom von ME unterscheiden können, ist mehr als ungewiss, da sie keine erfahrenen Diagnostiker sind.

Müssen wir befürchten, dass die NIH-Führung uns auch weiterhin hasst?

Diese Frage lässt sich momentan noch nicht mit Sicherheit beantworten. Doch die NIH macht ein ums andere Mal so viele Winkelzüge, dass es nicht verkehrt ist, mit dem Schlimmsten zu rechnen, wenn man nicht enttäuscht werden will. Die Salamitaktik der NIH lässt jedenfalls vermuten, dass nicht mit offenen Karten gespielt wird. Sonst würde man von Beginn an ein Studiendesign entwickelt haben, das allgemeinen wissenschaftlichen Anforderungen und dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand Genüge leistet. Oder aber die NIH würden zumindest ihre metatheoretischen Überlegungen nachvollziehbar offengelegt haben, die das von ihnen ausbaldowerte Studiendesign begründen könnten. Das ist aber nicht der Fall. Deshalb muss man den Eindruck gewinnen, dass die wahren Absichten, die hinter diesem Studiendesign stehen, dem kritischen Auge verborgen bleiben sollen. ****   

Allein die Studienhypothese bleibt bereits hinter längst erbrachten Forschungsresultaten zurück. Nach ihr wird postinfektiöses „ME/CFS“ durch eine virale Erkrankung getriggert, mit dem Resultat einer immunvermittelten Gehirndysfunktion. Das klingt erstmal gut. Doch einige biomedizinische Studien haben bereits nicht nur eine Gehirndysfunktion, sondern darüber hinaus organpathologische Gehirnveränderungen festgestellt. Das ist ein großer Unterschied. Denn auch Befindlichkeiten können zu Gehirndysfunktionen führen, nicht aber zu organpathologischen Gehirnveränderungen, wie sie für ME beschrieben wurden. (Laut Dr. Paul Cheney, Arzt und Zeuge des epidemischen Ausbruchs am Lake Tahoe, sagte ein Neuroradiologe, die Hirn-Scans sähen aus wie die von AIDS-Patienten. Siehe hier, Min. 4:22.)

Was die verschiedenen Tests angeht, so wird man den Eindruck nicht los, dass die NIH mit ihrer Forschung offenbar beim Nullpunkt beginnen wollen, als hätte es nicht schon seit Jahrzehnten – wenn auch leider nur in bescheidenem Rahmen – biomedizinische „ME/CFS“-Forschung gegeben. Viele der geplanten Tests wirken zumindest auf den ersten Blick zu unspezifisch, sind Routineuntersuchungen und scheinen sich nicht auf schon vorhandene Forschungsergebnisse zu beziehen. Doch Routineuntersuchungen verlaufen bekanntermaßen bei ME in aller Regel ergebnislos.

Um valide Biomarker für eine Krankheit zu erhalten, sind 40 Probanden ohnedies viel zu wenige. Mindestens 200 Studienteilnehmer, besser noch doppelt so viele, bräuchte man, um verwertbare Ergebnisse zu erzielen. Auch wenn man in Studienphase I noch gar nicht nach Biomarkern sucht, wird es bei einer so kleinen Patientenkohorte insgesamt schwierig werden, relevante Schnittmengen auszumachen. Zu geringe Aussagekraft wegen zu geringer Probandenzahl – das kreideten die Autoren des IOM-Reports vielen (chronisch unterfinanzierten) biomedizinischen Studien zu „ME/CFS“ an, weshalb sie in ihrem Report keine Erwähnung fanden. Warum muss die NIH, die doch die notwendigen Mittel zur Verfügung hätte, jetzt diesen Fehler noch einmal wiederholen?

Außerdem: 40 Patienten eine ganze Batterie diverser Tests absolvieren zu lassen, wird aller Wahrscheinlichkeit nach nur wenig übereinstimmende Resultate zutage fördern. Gleichzeitig könnte bei so einer kleinen Kohorte eine für eine Untergruppe Erkrankter relevante Abweichung leicht in der Statistik untergehen. Weniger Tests, dafür ME-spezifischere Tests und viel mehr Probanden – so käme man auch zu belastbaren Resultaten!



Ein weiterer Knackpunkt der geplanten Studie ist das Vorhaben, die Stresshormone der Probanden unter Bedingungen zu testen, die für ME-Patienten puren Stress bedeuten, nämlich während eines Klinikaufenthaltes. Für gewöhnlich leiden ME-Patienten unter Hypocortisolismus, doch in Stresssituationen erleben sie häufig einen sogenannten Adrenalinrausch, der sie befähigt, diese Situationen überhaupt durchzustehen. Mit dem Adrenalin steigt dann der Cortisolspiegel signifikant an, was dazu führen könnte, dass man den Patienten fälschlich Hypercortisolismus attestiert. Hypercortisolismus wird jedoch in aller Regel bei Depressiven festgestellt. Hypocortisolismus ist somit einer der biologischen Marker, die ME-Kranke von Depressiven zu unterscheiden vermögen, doch unter den gegebenen Umständen besteht die Gefahr, dass dieser Unterschied aufgehoben werden könnte.

Stresshormonforschung ist auch ein Spezialgebiet von Urs Nater und Christine Heim. Die beiden in Deutschland forschenden und lehrenden Psychologen basteln schon lange (noch seinerzeit gemeinsam mit William Reeves!) mittels biologischer Stresshormonparameter an der psychogenen Verursachungshypothese. Sie wollen für Menschen, die retrospektiv berichteten, Stress und Traumata in der Kindheit ausgesetzt gewesen zu sein, ein vielfach erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines "Chronic Fatigue Syndroms" ausgemacht haben. Sie stellen eine Verbindung zwischen neuroendokriner Dysfunktion bei CFS" und der jener her, die von Missbrauch und Misshandlung in der Kindheit berichteten. (Siehe dazu auch meinen Blog und mein Buch.)

In Anbetracht der vorgefassten Meinungen einiger in die NIH-Studie Involvierter wie z.B. Brian Walitt, Fred Gill und Leorey Saligan, die gleichen oder ähnlichen Verursachungshypothesen wie Nater und Heim anhängen, muss man befürchten, dass die Ergebnisse dieser Studie in einer Weise interpretiert werden könnten, die der organischen Krankheit und ihren Opfern in keiner Hinsicht gerecht werden wird.

So wirkt die Einbeziehung von Forschern, die ME nicht für eine organische Krankheit halten, in eine Studie, die die biologischen Grundlagen dieser Krankheit zu erkunden vorgibt, nur auf den ersten Blick absurd. Bei genauerem Hinsehen könnte man zu dem Schluss kommen, dass hier – wie bei Nater und Heim – versucht werden soll, psychogene Verursachungshypothesen mit biologischen Markern zu untermauern. In diesem Fall würde sich die Anwort des eingangs erwähnten pensionierten NIH-Wissenschaftlers aufs bitterste bewahrheiten und es wäre das Schlimmste, was den ME-Kranken passieren könnte!

Update vom 30.09.2017: Zwei Folien von Avindra Naths Präsentation auf der CMRC-Konferenz bringen die Haltung und die vorgefassten Meinungen der NIH-Studiengruppe auf den Punkt. Sie bezeichnen sich selbst als "Team Tired" und sie interessieren sich hauptsächlich für "FATIGUE", weshalb dieses Wort in Großbuchstaben und fast doppelt so groß wie "chronic" und "syndrome" geschrieben ist. Unverblümt demonstrieren sie auf diese Weise, dass sie den ME-Patienten keinen Respekt zollen und die Krankheit nicht ernst nehmen.





*Hillary Johnson A Disease Able to Affect The Economies of Nations, Vorwort in: Kent Heckenlively; Judy Mikovits Plague: One Scientist's Intrepid Search for the Truth about Human Retroviruses and Chronic Fatigue Syndrome, Autism, and Other Diseases, S. xxi, Skyhorse Publishing 2014.

**Siehe Transkript von Patricia Carter, M.E. Research & News Facebook Group,  https://www.facebook.com/ResearchHere1st/posts/1678662012410147 (Abruf 19.03.2016)

***Am 1. April bekam ich Antwort von der NIH auf meine Frage, welche Behandlung die genesenen Lyme-Patienten der Kontrollgruppe durchlaufen haben müssen. Sie müssen, so wurde mir mitgeteilt, eine "anerkannte Antibiotika-Behandlung für die Lyme-Borreliose mindestens 6 Monate vor der Aufnahme, aber weniger als 5 Jahre vor der Aufnahme" erhalten haben und dürfen "keine dokumentierten Symptome der Lyme-Borreliose 6 Monate nach der Behandlung" mehr haben. (Ü.d.A.) Als anerkannte Behandlung für eine frühe Lyme-Borreliose gilt in den USA eine zweiwöchige Antibiotika-Behandlung, bei komplizierteren Fällen eine drei- bis vierwöchige AB-Behandlung. (Hier nachzulesen, hier und hier. Die gleichen Empfehlungen gelten für Deutschland.)
    
Aus der Antwort der NIH kann man schließen, dass offenbar keine Patienten, die an einer chronischen Lyme-Borreliose litten, sondern nur ehemalige Lyme-Patienten, die frühzeitig nach einem Zeckenbiss mit Antibiotika behandelt worden sind, an der Studie teilnehmen sollen. Laut NIH will man die Lyme-Kontrollgruppe installieren, weil es sinnvoll sei, Patienten mit post-infektiöser "ME/CFS" mit "einer Kohorte, die auch eine Infektion hatte, aber dann vollständig gesundete", zu vergleichen. (Ü.d.A.) 

Doch dann stellt sich umso dringlicher die Frage, warum man nicht z.B. Grippepatienten als Vergleichskontrollen einsetzt, sondern auf einer Patientenkohorte besteht, bei der ein verlässlicher Erregernachweis so schwer zu führen ist. Selbst wenn bei diesen Patienten - nach den streng wissenschaftlichen Kriterien - der kulturelle Nachweis von Borrelien mit Erregeridentifikation durch PCR geführt worden sein sollte, fragt man sich ganz grundsätzlich, warum man nicht Patienten als Kontrollgruppe nimmt, die nach erfolgreicher Behandlung von einer chronischen Infektion genasen. Denn da "ME/CFS" eine chronische Krankheit ist, kann es doch eigentlich nur sinnvoll sein, sie mit Patienten einer anderen chronischen Krankheit zu vergleichen und nicht mit Patienten, die eine akute Infektion mittels medikamentöser Therapie überwunden haben. 

****Die NIH hatten kurzzeitig den Link zu der Studie gelöscht. Deshalb musste ich für meine Quellenangaben die wayback machine bemühen. Inzwischen ist der Link wieder abrufbar. (http://mecfs.ctss.nih.gov/) Meinen Erkenntnissen nach wurde die Seite jedoch nicht überarbeitet. Es fragt sich also, warum der Link von den NIH vorübergehend gelöscht wurde. Hoffte man, die Patienten würden das nicht bemerken? Wollte man Änderungen am Studiendesign vornehmen, konnte sich aber dann doch nicht dazu entschließen?   

Bildnachweise:

Felix Nussbaum, Mascarade, www.commons.wikimedia.org
Felix Nussbaum, Puppets, www.commons.wikimedia.org
Felix Nussbaum, Self-Portrait with Crazy Laugh, www.commons.wikimedia.org
Felix Nussbaum, The Storm (The Exiles), www.commons.wikimedia.org
Rembrandt van Rijn, Die Anatomie des Dr. Tulp, www.commons.wikimedia.org

Videos:

Trailer: M.E. The Hidden Truth 
MIND THE ABYSS: Part 1 - "PRODROME" (Myalgic Encephalomyelitis - M.E.)
The Invisible Ones - On Severe ME/CFS


Katharina Voss, Copyright 2016