Mittwoch, 13. Juli 2016

Wissenschaft – himmlische Göttin oder tüchtige Kuh?


(Mit Studienliste zum Ausdrucken! Die Studienliste wird von Zeit zu Zeit aktualisiert.)

Wissenschaft ist ein guter Wanderstab, sagt ein deutsches Sprichwort. Doch ein anderes kontert: Ein gelehrter Bär kommt im Wald nicht weit. Und tatsächlich, im Dickicht der Praxis sind harte wissenschaftliche Fakten oft nicht angesagt. Hier ist der sogenannte gesunde Menschenverstand gefragt, es dominieren Mythen, Legenden, Vorurteile und Lehrmeinungen, die nicht dem Streben nach Wahrhaftigkeit und den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis verpflichtet sind, sondern darauf abzielen, sich dem jeweiligen gesellschaftlichen Klima anzupassen oder den ideologischen Überbau für politisch-ökonomische Entwicklungen zu schaffen. In unserer immer mehr auf Selbstoptimierung ausgerichteten Gesellschaft ist, ergänzend zu einer fast ausschließlich auf Profitmaximierung fixierten Wirtschaft, im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte eine zunehmende soziale Kälte zu spüren. Dabei bleiben diejenigen, die sich, bildlich gesprochen, durchs Unterholz der Gesellschaft schlagen müssen, mehr und mehr auf der Strecke.



Diese Entwicklung gilt auch für das Gesundheitswesen, und Patienten mit Krankheiten wie der Myalgischen Enzephalomyelitis, die – oft wider besseres Wissen – zu rätselhaften Krankheiten erklärt werden, sind ihre ersten Opfer. In der Tat, es ist zum Mäusemelken: Obwohl die Myalgische Enzephalomyelitis seit bald einem halben Jahrhundert mit der Schlüsselnummer G93.3 unter den organischen Krankheiten im ICD eingeordnet ist, sehen sich die Patienten auch heute noch in der Pflicht, gegenüber Ärzten, Gutachtern, Gerichten, Behörden, Rententrägern, Versicherungen usw. den Nachweis führen zu müssen, dass es sich bei ihrer Erkrankung auch tatsächlich um eine organpathologische handelt. Man könnte sogar den Eindruck gewinnen, die Situation habe sich mit den Jahren noch erheblich verschärft. Je mehr biomedizinische Anomalien die Pathophysiologie bestätigen, desto vehementer beharren die Nutznießer einer psychogenen Verursachungstheorie auf ihrem obsoleten Standpunkt und desto absurder werden ihre verschwurbelten Verursachungshypothesen.

Mal soll unser angeblicher Hang zum Perfektionismus schuld an der Erkrankung sein, mal unsere Faulheit, mal unser mieser Charakter, der uns Zuflucht in der vielzitierten sozialen Hängematte suchen lässt, mal soll es eine irrationale Angst vor Zustandsverschlechterung nach einem viralen Infekt sein, die uns daran hindert, wieder aktiv zu werden, mal sind wir angeblich einfach nur in den Teufelskreis der Dekonditionierung geraten, mal soll eine posttraumatische Belastung verantwortlich sein, mal zu viel Stress – die Liste wohlfeiler Beliebigkeitsresultate lässt sich beinahe ebenso beliebig verlängern.



Solche Verursachungshypothesen entbehren jeglicher wissenschaftlicher Belastbarkeit; häufig werden dabei die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis missachtet, indem z.B. Scheinkorrelationen ohne Weiteres Kausalzusammenhänge zugrunde gelegt werden. Studien, die diese Hypothesen aufstellen, dienen dazu, politisch erwünschte, auf die Austeritätsmaßnahmen im Gesundheitswesen zugeschnittene Ergebnisse zu liefern. Diese Forschung – nicht selten gesponsert von Gesundheits-, Arbeits- und Rentenministerien, großen Firmen, der Pharma- und/oder Versicherungsindustrie – ist angehalten, sich dem Diktat der Sparpolitik zu beugen. Doch mit seriöser Wissenschaft haben solche Forschungen nichts zu tun. Stets wird dabei mit aufgeweichten Krankheitsdefinitionen gearbeitet, die keine homogenen, sondern nur heterogene Patientenkohorten untersuchen. Meist werden nur retrospektive Studien durchgeführt, obgleich sie keine anerkannten Beweise liefern, Kausalzusammenhänge nicht klären können und überdies sehr fehleranfällig sind. Fast immer enthalten die bei solchen Erhebungen von den Patienten auszufüllenden Fragebögen überwiegend Suggestivfragen. Nie wird das Kernsymptom der ME, die pathologische Muskelerschöpfbarkeit mit der Folge einer Zustandsverschlechterung nach nur geringfügiger Belastung, abgefragt, immer jedoch die für das schwere Krankheitsbild völlig unerhebliche und vernachlässigbare Fatigue, u.zw. eine Fatigue im Sinne von Müdigkeit, nicht etwa im Sinne einer Central Fatigue.

Hauptsache, im Ergebnis wird das vorherrschende Paradigma einer Befindlichkeitsstörung, einer Verhaltensstörung oder psychosomatischen Erkrankung nicht angekratzt. Denn bei aller Beliebigkeit: Eins darf unsere Krankheit nicht sein, nämlich organisch verursacht. Weil dann wären wir ja – ei der Daus! – anspruchsberechtigt. Und all die Schwurbeltheoretiker verlören ihre Forschungsgelder und ihren Ruf. Nun ja, dem einen ist, wie Schiller schon schrieb, die Wissenschaft „die hohe, die himmlische Göttin, dem andern eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt“.

Die derzeit gültigen medizinischen Leitlinien zur Krankheit bauen auf die zweifelhafte Methodik von Wissenschaftlern letzteren Schlages. Leider sind ME-Patienten in Deutschland ganz überwiegend mit Ärzten und Gutachtern konfrontiert, die sich bei Diagnostik und Begutachtung auf eben diese Leitlinien berufen. Die Patienten müssen dabei die oftmals traumatisierende Erfahrung machen, von Personen begutachtet zu werden, die statt Wissen Fehlinformationen und Vorurteile abgespeichert haben. Muckt der Patient auf, so wird er häufig Zeuge, wie von keinem Zweifel angefasste Ärzte und Gutachter ihr Nichtwissen mit Herrschaftsgebaren kompensieren. Angesichts dieser Arroganz und Ignoranz fühlt der Patient sich hilflos seiner Ohnmacht ausgeliefert.




Doch genau diese Arroganz und Ignoranz hat im Laufe der Medizingeschichte immer wieder zu Fehlentwicklungen oder manchmal sogar zu fatalen Folgen geführt. Ein Beispiel dazu benennt Nassim Nicholas Taleb in seinem Buch „Der schwarze Schwan – Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“. Es handelt sich dabei um die Arroganz der Ärzte in den 1960er-Jahren in Bezug auf die Muttermilch. Die meisten damaligen Ärzte betrachteten das Stillen als etwas Primitives und „kamen gar nicht auf die Idee, dass die Muttermilch nützliche Bestandteile enthalten könnte, die sich ihrem wissenschaftlichen Verstehen entziehen könnten – [...]“. Sie verwechselten das „Fehlen(s) von Beweisen für die Vorteile der Muttermilch mit Beweisen für das Fehlen der Vorteile [...]“. [Taleb, 2010, Zitat S. 78]

Leidtragende dieser krassen Fehleinschätzung, die jedem wissenschaftlichen Denken widerspricht, war eine ganze Generation ungestillter Kinder mit erhöhter Anfälligkeit für diverse gesundheitliche Probleme. Wie schwer ein Paradigma wieder rückgängig zu machen ist, zeigt sich gerade auch an diesem Beispiel. Denn noch heute können viele Mütter trotz der Fülle an Beweisen für die Vorteile von Muttermilch sich nicht dazu durchringen, ihre Kinder zu stillen und schenken oft aus Gründen der Bequemlichkeit lieber den Werbeversprechen der Milchnahrungshersteller Glauben.

Mit ganz ähnlichen Fehleinschätzungen, die auf nichts als Arroganz und Ignoranz beruhen, haben ME-Patienten es tagtäglich zu tun. Denn auch bei dieser Krankheit verwechselt ein Großteil der Ärzteschaft das Fehlen von Beweisen für eine Organpathologie der Krankheit mit Beweisen für das Fehlen einer Organpathologie der Krankheit.




Doch im Unterschied zum tatsächlichen Fehlen von wissenschaftlichen Beweisen für die Vorteile von Muttermilch in den 1960er-Jahren, liegen für die ME die organpathologischen Beweise bereits in Hülle und Fülle vor. Aber Arroganz und Ignoranz verhindern, dass sie zur Kenntnis genommen werden. Darüber hinaus fehlt das Basiswissen zur Krankheit. Die meisten Ärzte können die ME-typischen Anomalien mit ihren Routinelaboruntersuchungen nicht identifizieren und eventuelle Abweichungen nicht im Gesamtzusammenhang interpretieren. Es fehlt häufig die Einsicht, dass die abweichenden Parameter nicht durch Routinediagnostik zu ermitteln sind, sowie der Wille, den Patienten einer gründlicheren Untersuchung zu unterziehen. Die bereits vorhandenen Biomarker sind den Ärzten nicht bekannt, da sie nicht allgemein anerkannt sind.

Infolgedessen wird das Leiden des Patienten psychopathologisiert. Zur Vergabe psychiatrischer Diagnosen aus dem Füllhorn genügt diesen Ärzten allein das fehlende positive Laborkorrelat für die beklagte Körpersymptomatik. Offenbar stören sich die Ärzte nicht daran, den psychiatrischen Positivbefund schuldig zu bleiben, nämlich den Nachweis eines die körperliche Symptomatik verursachenden seelischen Konfliktes oder eines auslösenden traumatischen Ereignisses. Das ist bemerkenswert, denn dieselben Ärzte erkennen eine organpathologische Krankheit nur dann als solche an, wenn der Patient auch tatsächlich einen biomedizinischen Positivbefund, nämlich z.B. von der Norm abweichende Laborbefunde vorweisen kann.


Mit Nassim Nicholas Taleb möchte man diesen Ärzten zurufen: Es gibt zwar das Akronym NED in der medizinischen Literatur für No Evidence of Disease (keine Beweise für eine Krankheit), jedoch so etwas wie END (Evidence of No Disease), also Beweise für keine Krankheit, gibt es nicht.

Doch zum Glück sind auch gegenläufige Entwicklungen zu verzeichnen, die der zunehmenden Psychopathologisierung von Krankheiten unbekannter Ursache etwas entgegenzusetzen haben. Dazu zählt beispielsweise die Einrichtung von immer mehr Zentren für Seltene Erkrankungen. In denen ist die Krankheit ME zwar meist ebenfalls so gut wie unbekannt, aber immerhin geht man dort vielen anderen Leiden von Patienten mit rätselhaften Symptomen, die zuvor auf ihrer Ärzteodyssee fälschlich mit psychiatrischen Diagnosen abgespeist wurden, auf den Grund.

Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert schrieb einmal, dass „eines schönen Tages die ganze moderne Wissenschaft zusammenbrechen“ und man sich „über uns lustig machen“ werde. Er wünschte es sich sogar, ein Wunsch, dem sich viele zu Unrecht psychopathologisierte Patienten in Bezug auf die psychiatrische Forschung gerne anschließen. Erfreulicherweise werden mit Hilfe neuer diagnostischer Verfahren zunehmend organpathologische Veränderungen als Ursache für psychische Krankheiten entdeckt. Dabei geriet sogar auch eine Diagnose wie die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ins Wanken.





Der amerikanische Neuropathologe Daniel Perl untersuchte die Gehirne verstorbener US-Kriegsveteranen, die in Afghanistan und dem Irak gedient hatten, und nach ihrer Rückkehr von Psychologen wegen ihrer Depressionen, Wutanfälle und Sprachstörungen mit der Diagnose PTBS belegt wurden. Hirnscans zeigten keine Anomalien, doch Perl untersuchte die Gehirne scheibchenweise unter dem Mikroskop. Dabei entdeckte er punktförmig vernarbtes Gewebe – irreparabel zerstört durch gewaltige Druckwellen, die der eigentlichen Detonation von Sprengkörpern vorangehen. Hirnschädigungen durch Überschallschock – womöglich hat Perl damit auch das Rätsel um die sogenannten „Kriegszitterer“ gelöst, die nach den wochen- und monatelang anhaltenden Materialschlachten des ersten Weltkriegs unter nervösen Zuständen mit schwersten Symptomen litten und meist als Pflegefälle heimkehrten. Nach Perls Hypothese waren auch bei ihnen nicht etwa traumatische Kriegserlebnisse die Ursache für ihr verändertes Wesen und Verhalten, sondern ebenfalls die Druckwellen von Detonationen, die massive Hirnschäden bei den Soldaten angerichtet hatten. [Perl, DP, 2016]

Schon seinerzeit hatten führende Neurologen wie Hermann Oppenheim sowie die damaligen Psychiater und Psychologen angenommen, die Kriegszitterer seien Opfer vielfacher kleiner Gehirnerschütterungen, ausgelöst durch Druckwellen und Explosionsgeräusche. Doch auch hier fand – ebenso wie bei der Krankheit ME, wie in meinem Buch nachzulesen ist – ein Paradigmenwechsel statt. Als die Kriegszitterer zum Massenphänomen wurden, wurde den Geschädigten plötzlich Simulantentum unterstellt. Man wollte sich auf diese Weise ihres Anrechts auf Entschädigungsrenten entledigen. Sie wurden zu „Kriegsneurotikern“, zu Psychopathen und Hysterikern erklärt und man griff zu folterähnlichen Behandlungsmaßnahmen wie Elektroschocks, Eiswassergüssen, Isolation, Disziplinierungen und brüllte sie mit militärischen Kommandos an oder bearbeitete sie mit Suggestivsprüchen.

Mit Perls Forschung wird nun erneut ein Paradigmenwechsel eingeläutet. Wenn sich die Erkenntnisse des Neuropathologen in weiteren Studien bestätigen lassen, wird die Diagnose PTBS bei etlichen Kriegsveteranen hinfällig werden. Aber auch die Fortschritte der psychiatrischen Forschung biologischer Ausrichtung lassen einen interessanten Trend erkennen: Die Zahl der Erkrankungen, die bislang als rein psychischer Genese angesehen wurden, schrumpft zunehmend. Vielleicht wird es eines Tages ganz überwiegend Krankheiten somatischen Ursprungs geben. Damit würde die Psychiatrie ihre Rolle als politisch-ökonomische Kontrollinstanz verlieren, was dringend überfällig ist. Das heißt nicht, dass man zukünftig auf Psychotherapeuten verzichten könnte. Denn es gibt eine Menge Menschen, deren Weste von Lebensbeginn an falsch geknöpft wird, oder die vom Schicksal gezwungen werden, in Schuhen zu laufen, die ihnen ein paar Nummern zu groß sind. Und diese Menschen sollen auch weiterhin psychotherapeutische Unterstützung bekommen, wenn es sie danach verlangt.





Doch der Psychopathologisierung von somatischen Krankheiten wie der Myalgischen Enzephalomyelitis muss ein Ende bereitet werden. Wir können dazu beitragen, indem wir diejenigen, die sich nur an den mit Desinformationen gespickten Leitlinien orientieren, mit seriöser wissenschaftlicher Literatur versorgen.

Deshalb habe ich eine Liste relevanter Studien, die biomedizinische Anomalien ME/“CFS“-Kranker erforscht haben, zusammengestellt, die Sie Ärzten, Gutachtern, Rentenversicherungen, Gerichten usw. vorlegen können. Hier können Sie die Liste zum Ausdrucken herunterladen und hier den Blogpost. Die Liste ist ein (aktualisierter und ergänzter) Kapitelauszug aus meinem Buch „ME – Myalgische Enzephalomyelitis vs. Chronic Fatigue Syndrom: Fakten Hintergründe Forschung“.



Literatur:

Taleb, Nassim Nicholas Der schwarze Schwan - Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2010, 2. Aufl.

Perl, DP, Shively, SB et al. „Characterisation of interface astroglial scarring in the human brain after blast exposure: a post-mortem case series“, The Lancet Neurology 2016

Dworschak, Manfred „Durchgeknallt“, in: DER SPIEGEL 26/2016

Pech, Anja „Hermann Oppenheim (1858-1919) - Leben und Werk eines jüdischen Arztes“, Dissertation Fachbereich Medizin der Universität Hamburg 2006, s. S. 89, s. S. 98

Bewermeyer, Heiko (Hrsg.) Hermann Oppenheim – ein Begründer der Neurologie, Schattauer Verlag, 1. Auflage 2016, s. S. 115

Dribbusch, BarbaraKriegszitterer waren verpönt“,  in: taz vom 29.03.2014

Virchow, Fabian; Butollo, Willi; Braas, Roger und Griese, Karin „Unsichtbare Wunden – Posttraumatische Belastungsstörungen als Folge von Krieg und Gewalt“, in: Wissenschaft & Frieden 2009, Dossier Nr. 61

Bildnachweise:

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, www.commons,wikimedia.org
Hieronymus Bosch, Das Jüngste Gericht, www.commons,wikimedia.org
Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, www.commons,wikimedia.org
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Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, www.commons,wikimedia.org
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Katharina Voss, Copyright 2016