Dienstag, 27. Juni 2017

Dumm – dümmer – DEGAM?


Eine neue Leitlinie Müdigkeit steht den ME/"CFS"-Patienten ins Haus. 
Bis Ende des Jahres soll der Entwurf der DEGAM-Autoren Prof. Dr. med. Erika Baum, Prof. Dr. med. Norbert Donner-Banzhoff und Prof. Dr. med. Peter Maisel in trockenen Tüchern sein.



Nach meinem offenen Brief an die DEGAM bin ich dort anscheinend nicht gerade wohlgelitten. Prof. Baum, ihres Zeichens Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin, forderte mich, die Mutter zweier schwerstbetroffener Töchter, seinerzeit sogar in harschem Ton auf, „weitere Korrespondenzen mit unserer Leitliniengeschäftsstelle oder Leitliniengruppe“ zu „unterlassen“. Eine Meisterleistung an Empathie! So stellt sich die DEGAM-Präsidentin offenbar das Verhältnis zum mündigen, aufgeklärten und kritischen Patienten vor: Er soll die Schnauze halten!




Folglich gehöre ich also nicht zum illustren Kreis derer, deren Kommentare und Ergänzungen zum neuen Leitlinienentwurf Müdigkeit „herzlich willkommen“ sind. Doch ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ja bekanntlich ganz ungeniert. Weshalb ich mich nahtlos der Frage zuwenden möchte, ob die Leitlinienautoren tatsächlich dumm sind. 

Ach, wäre es doch nur so! Aber leider sind sie das nicht, auch wenn das, was sie im Kapitel „5.7 Chronisches Müdigkeits­syndrom (CFS)“ ihres Entwurfs zusammengeschmiert haben, diesen Schluss nahelegt. Sie sind Professoren, die wissenschaftlich arbeiten und publiziert haben. Man sollte sogar gute Englischkenntnisse bei ihnen voraussetzen können, da sie einige ihrer Arbeiten in englischer Sprache veröffentlichten.

Nun behaupten sie aber, das amerikanische Institute of Medicine habe in seinem Report Beyond Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness eine Liste von 67 Bezeichnungen für die Erkrankung publiziert. Da scheint es mit den Englischkenntnissen dann doch ein bisschen zu hapern. Denn im IOM-Report werden lediglich 67 Namensvorschläge, eingereicht von Bürgern, gelistet, von denen die meisten nie in Gebrauch waren. (Vgl. IOM-Report S. 58f.)

Oder liegt es vielleicht doch nicht an mangelnden Englischkenntnissen? Wollen die DEGAM-Autoren etwa absichtlich den falschen Eindruck erwecken, es gäbe tatsächlich 67 Bezeichnungen für „CFS“? Bezwecken sie, auf diese Weise die Krankheit der Lächerlichkeit preiszugeben? Nun, von vielbeschäftigten Ärzten, die keine Zeit haben, sich mit den Details der neuen Leitlinie auseinanderzusetzen, werden die Autoren keine Überprüfung ihrer Angaben zu befürchten haben. Von Patienten und ihren Angehörigen allerdings schon.





Was das Streuen von Desinformationen angeht (oder ist es tatsächlich Wissensmangel?), haben die DEGAM-Autoren also auch dieses Mal wieder ganze Arbeit geleistet. Sie behaupten beispielsweise, der Name Myalgic encephalomyelitis (ME) sei im englischen Sprachraum, besonders in Großbritannien verbreitet und insbesondere unter Laien und der allgemeinen Öffentlichkeit. Offenbar soll damit suggeriert werden, es handele sich um eine Bezeichnung, die hauptsächlich von Laien, nicht aber von Fachleuten gebraucht wird. Das ist jedoch schlicht falsch. Eine Stichwortsuche bei scholar.google ergibt derzeit knapp 10.000 Treffer zu dem Begriff. Auch in Deutschland wird seit einigen Jahren häufiger von Myalgischer Enzephalomyelitis bzw. von „ME/CFS“ gesprochen. Dieser Name taucht inzwischen nicht nur in Artikeln wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Journale auf, sondern auch zunehmend in Fachpublikationen.

Und es geht munter weiter mit den Desinformationen, wenn die DEGAM-Autoren schreiben, es seien Vertreter der Organisationen von Betroffenen, die betonen, „CFS“ bilde eine abgrenzbare Krankheits-Entität. Hier wird der falsche Eindruck erweckt, nur Vertreter von Patientenorganisation würden glauben, „CFS“ bilde eine eigenständige Krankheitsentität. Tatsächlich hat aber die WHO dieser Krankheit eine eigenständige Entität unter den neurologischen Krankheiten zugebilligt, u.zw. der ME seit 1969 und dem im ICD synonym gebrauchten „CFS“ rund 20 Jahre später. Diese Zuordnung ist vom DIMDI im Jahr 2008 noch einmal bestätigt worden. Setzen sich die DEGAM-Autoren also frech über das internationale Klassifikationssystem hinweg?

Aber es kommt noch viel schlimmer: Die DEGAM-Autoren halten medizinische Diagnosen für „Vereinbarungen“, die sich auf Grund von sozialen und kulturellen Gegebenheiten und biomedizinischen Erkenntnissen entwickeln. Sie weisen dabei auch auf die Schwierigkeit bei anderen häufig diagnostizierten somatischen und psychischen Erkrankungen hin, krank und nicht krank voneinander abzugrenzen. Die Leitlinien-Autoren begreifen Krankheit also mehr oder weniger als soziales Konstrukt. Das kann man machen, denn neben wissenschaftlichen Durchbrüchen in der Biomedizin sind es immer auch gesellschaftliche Verständigungsprozesse, die darüber entscheiden, ob eine Krankheit als Krankheit oder als soziale oder kulturelle „Neurose“, als organisch oder somatoform angesehen wird. Was als organischpathologisch oder psychisch bzw. somatoform oder schlicht sozialpathologisch gilt, unterliegt immer auch einem historischen Prozess.

Doch Vorsicht, die Auffassung von „CFS“ bzw. ME als sozialem Konstrukt könnte sich in nicht allzu ferner Zeit als historischer Bumerang erweisen. Denn die Verfechter von psychogenen Verursachungstheorien organischer Krankheiten erwiesen sich bislang stets als die Rückständigen und naturwissenschaftliche und biomedizinische Erkenntnisse haben regelhaft diese historischen Irrtümer korrigiert. (Siehe z.B. MS, Magengeschwür, TBC etc.) Und da zu ME und/oder „CFS“ bereits Tausende von biomedizinischen Forschungsarbeiten vorliegen, darüber hinaus erste erfolgreiche Behandlungsstudien mit z.B. Rituximab und Ampligen durchgeführt wurden, begibt sich das DEGAM-Autorenteam hier auf gefährliches Glatteis – und mit ihnen die Allgemeinmediziner, die für ihre Empfehlungen ja dann in der Praxis geradestehen müssen. (Eine kleine Auswahl biomedizinischer Forschungsarbeiten finden Sie hier auf meiner Studienliste.)

Damit nicht genug: Die DEGAM-Autoren schlagen allen Ernstes vor, das Bewusstsein für diese Krankheit in der Allgemeinheit und in der Fachöffentlichkeit nicht weiter zu vertiefen. Begründet wird das mit der ungeklärten Ätiopathologie und fehlenden spezifischen Behandlungsmöglichkeiten. Man stelle sich einen solchen Vorschlag mal für eine andere Krankheit mit weitgehend ungeklärter Ätiologie vor, z.B. Krebs. Ein medizinischer Skandal sondergleichen! Nach dem Willen der DEGAM sollen nun also 100.000 bis 240.000 teils schwer und unheilbar erkrankte Menschen in Deutschland endgültig sich selbst überlassen bleiben und verrotten? Müssten hier – anstatt eine Vogel-Strauß-Politik zu propagieren – die Anstrengungen, die Ursache der Krankheit herauszufinden und Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln und zu etablieren, nicht verdoppelt und verdreifacht, ja, verzehnfacht werden? 




Die DEGAM-Autoren sehen das offenbar anders. Sie spielen die Krankheit herunter, wo sie nur können. Sie verweisen beispielsweise darauf, dass die Erkrankung in Deutschland kaum eine Rolle spiele, was ihrer Ansicht nach wohl seinen Grund in „unterschiedlichen diagnostischen Gewohnheiten“ habe. Diese Patienten würden hierzulande z.B. als depressiv oder neurasthenisch diagnostiziert werden, so ihre Annahme. Unzweifelhaft kennen die meisten deutschen Ärzte die Krankheit nicht. Doch die Krankheit spielt bislang in Deutschland nur deshalb kaum eine Rolle, weil bei uns angemessene Information und Aufklärung sowie ärztliche Fortbildungen fehlen. Zudem ist sie nicht – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern – in Forschung und Lehre verankert.

Durch mangelnde Aufklärung verursachte unterschiedliche diagnostische Gewohnheiten führen aber geradewegs zu Fehldiagnosen und Falschbehandlung. Aus diesem Grund sollten Leitlinien eigentlich dazu beitragen, die Krankheit und ihr Symptommuster sowie das richtige Management bekannt zu machen, anstatt sie noch weiter unter den Teppich zu kehren, als schon bisher geschehen. Die DEGAM-Autoren haben jedoch mit Fehldiagnosen anscheinend gar kein Problem; offenkundig sind sie ihnen sogar nicht unwillkommen.

Sie behaupten darüber hinaus, die internationale Diskrepanz diagnostischer Gewohnheiten stütze die Annahme, sowohl somatische als auch psychosoziale Faktoren seien bei der Krankheitsgenese beteiligt. Diese Behauptung entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Denn diagnostische Gewohnheiten sind Gewohnheiten und kein wissenschaftlicher Nachweis, der Erklärungszusammenhänge für die Pathogenese einer Krankheit liefern könnte.

Als Beispiel für einen psychosozialen Faktor führen die Autoren die „Auffassung“ von den Patienten an, eine körperliche Erkrankung zu haben. Diese „Auffassung“ sei eine kognitive Fehlleistung nach einer viralen Infektion, die zu einer Verhaltensänderung führe. Die Betroffenen würden aus Furcht, ihre Erkrankung könne sich durch körperliche Belastung verschlimmern, Aktivitäten vermeiden und das Bett hüten. Mangelnde Aktivität habe dann physiologische Sekundärveränderungen zur Folge, nämlich eine Dekonditionierung. Die wiederum ziehe nun tatsächlich Beschwerden durch Bewegung, die sich durch Ruhe kurzfristig besserten, nach sich. Dadurch entstehe ein Teufelskreis aus Furcht-Vermeidungsverhalten, Hilflosigkeit und depressiver Stimmung.

Ja, haben die DEGAM-Autoren denn gar nichts begriffen? Wenn die Hypothese von der Dekonditionierung zuträfe, müssten bei Menschen, die aus anderen Gründen körperlich inaktiv sind, z.B. weil sie in Gipsverbänden liegen oder in Isolationshaft sind, oder auch nur bei Menschen mit überwiegend sitzender Lebensweise, wovon es ja nicht gerade wenige gibt, ebenfalls ME/“CFS“-Symptome auftreten. Das ist aber nicht der Fall und schon aus diesem Grund ist die Dekonditionierungshypothese hinfällig. Ein Mangel an Fitness kann also offenkundig keines dieser Symptome verursachen.



Die „CFS“-Patienten haben auch keineswegs Symptome, wie sie nach längerer Trainingspause entstehen, und sie sind schon gar nicht in einem Teufelskreis gefangen, der zu Ausweichen, Vermeidung, Hilflosigkeit und depressiver Stimmung führt. Diese Verhaltensweisen sind unvereinbar mit dem bei den Patienten häufig zu beobachtenden Push-Crash-Muster. Besonders zu Beginn der Erkrankung, wenn die Patienten noch keine Diagnose haben, pushen sie sich bis an ihre Grenzen, die zu diesem Zeitpunkt auch schon sehr eng gesteckt sein können, und erleben dann einen massiven Einbruch. Wenn sie sich davon halbwegs wieder erholt haben, pushen sie sich wieder bis zum nächsten Crash. Die Annahme eines Furchtvermeidungs-Verhaltens lässt sich also definitiv nicht mit dem bei vielen Patienten zu beobachtenden Push-Crash-Muster vereinbaren.

Die Therapievorschläge im Leitlinienentwurf sind – und das kommt nicht überraschend – die gleichen wie in der letzten Leitlinie: Kognitive Verhaltenstherapie (CBT) und schrittweise körperliche Aktivierung (GET). Das ist nur konsequent, denn nach Ansicht der Autoren handelt es sich ja bei „CFS“ oder ME offenbar nicht um eine körperliche Krankheit, wie im ICD klassifiziert, sondern um eine kognitive Fehleinschätzung und die damit verbundene Verhaltensänderung von Menschen, die der irrtümlichen „Auffassung“ sind, eine körperliche Krankheit zu haben.

Die DEGAM-Autoren beziehen sich bei ihren Empfehlungen schwerpunktmäßig auf Studien, die zwischen 1993 und 2008 publiziert wurden, also 24 bzw. mindestens 9 Jahre alt sind. Auch auf die PACE Trial, mächtigster Grundpfeiler der von Psychiatern und Psychosomatikern vertretenen Hypothese, dass „CFS“ und ME lediglich auf sogenannten falschen Krankheitsüberzeugungen, Furcht-Vermeidungsverhalten, Trainingsphobie und Dekonditionierung beruhen, wird verwiesen. Dass diese „betrügerische und moralisch bankrotte Forschungsarbeit“ inzwischen wissenschaftlich komplett demontiert und als Schwindel entlarvt wurde, scheinen die Autoren nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen, obwohl ich in meinem offenen Brief an die DEGAM nachdrücklich darauf hingewiesen hatte. 



Wenn auch die Therapieempfehlungen der DEGAM nicht überraschen, so verwundert doch – besonders in diesem Zusammenhang – der Bezug auf den IOM-Report und dessen Diagnosekriterien. Eine Krankheit, die vom IOM mit dem Namen Systemische Belastungs-Intoleranz-Krankheit (systemic exertion intolerance disease = SEID) belegt wurde, soll nach dem Willen der DEGAM mit Belastung, nämlich mit schrittweise gesteigerter Aktivierung behandelt werden? Wo bleibt da die Logik?

Die Schlussfolgerungen des IOM-Reports bezüglich Therapie (CBT und GET) fallen – logischerweise – anders aus als die des DEGAM-Leitlinienentwurfs: Es gibt wenig Hinweise für die Wirksamkeit dieser Interventionen bei „ME/CFS“-Patienten in Bezug auf Funktion und Invalidität. (S. 264 „Treatment: Similar to the literature on treatment in ME/CFS patients, there is little evidence on the efficacy of interventions in ME/CFS patients with respect to function and disability.“) Und CBT- und GET-Studien lieferten keine Evidenz für die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. (S. 265 „Furthermore, analysis of existing studies revealed no evidence of treatments effective at restoring the ability to work. […] Consistent with the findings of the systematic review of Ross and colleagues (2002, 2004), studies reviewed by Taylor and Kielhofner (2005) provided no evidence regarding the efficacy of employment rehabilitation, such as CBT and/or graded exercise therapy.“)

Mal ganz abgesehen von den widersinnigen Therapieempfehlungen der DEGAM sind die IOM-Kriterien denkbar ungeeignet, um Patienten mit „CFS“ oder ME zu identifizieren, weil sie keine psychiatrische Ausschlussdiagnose erfordern. Infolgedessen wird die Anwendung dieser Kriterien einen sprunghaften Anstieg der Prävalenzraten zur Folge haben, der in niemandes Interesse sein kann, denn damit sind ärztliche Kunstfehler bereits vorprogrammiert. (Jason et al. demonstrierten, dass die Fukuda-Prävalenzrate von 0,42% um das 2,8-fache mit den neuen IOM-Kriterien ansteigt.)

Da haben sich die DEGAM-Autoren aus dem IOM-Report also nur das herausgepickt, was in ihr beschränktes medizinisches Weltbild passt. Es wird die Lage für die ME- bzw. „CFS“-Patienten in unserem Land jedoch erschweren, wenn noch mehr an unspezifischer Müdigkeit Leidende unter diesem Krankheitsbild geführt werden. Und die verheerenden Folgen von oftmals bereits geringer körperlicher Anstrengung für die Patienten, vor denen sogar bereits die NIH auf ihrer Website warnen, werden mit den Therapieempfehlungen dieses Leitlinienentwurfs auch ein weiteres Mal ignoriert. Die Überarbeitung des Evidenzreports zu Diagnose und Behandlung von „ME/CFS“, herausgegeben von der U.S. Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ), ist ebenfalls spurlos an der DEGAM vorbeigegangen. Das Resultat der Korrektur: Es gibt keine ausreichenden Nachweise für die Wirksamkeit von GET und CBT! Selbst die CDC haben ihre Webseite der neuesten Forschung angepasst und ihre vorherigen Behandlungsempfehlungen gekippt: Sämtliche Hinweise auf GET und CBT sowie auf den "GET Guide", geschrieben von britischen GET-Therapeuten mit Unterstützung von Peter White und herausgegeben von dessen Coautorin Lucy Clark, wurden nach dem Debakel der PACE Trial ersatzlos gestrichen. Aber die DEGAM kratzt das alles offensichtlich nicht.





Das Hauptmissverständnis des Leitlinienentwurfs liegt jedoch in der Auffassung der Autoren, das Kernsymptom von Patienten, die nach G93.3 diagnostiziert wurden, sei Müdigkeit. Dem ist mitnichten so, auch wenn der irreführende Name „Chronic Fatigue Syndrom“, der noch unzutreffender mit „Chronisches Müdigkeitssyndrom“ ins Deutsche übersetzt wurde, das zu suggerieren scheint.

ME-Kranke bzw. sogenannte „CFS“-Patienten leiden nicht hauptsächlich unter Müdigkeit. Viele von ihnen leiden sogar überhaupt nicht unter Müdigkeit, andere nicht mehr als die Menschen, die an anderen schweren chronischen Krankheiten leiden, wie z.B. Krebs oder Herzinsuffizienz. Es ist auch nicht chronische Müdigkeit, die die ME- bzw. „CFS“-Patienten arbeitsunfähig oder unfähig, um den Block zu gehen macht, sie ans Haus oder ans Bett fesselt. Es ist ihr Kernsymptom, die pathologische Mukelerschöpfbarkeit und die damit verbundene oft extreme Verschlimmerung aller typischen ME-Symptome – wie Schmerzen, Schwäche, kognitive, neurologische und autonome Beschwer­den, Grippesymptomatik, Schlafstörungen usw. – nach nur geringer körperlicher und/oder geistiger Anstrengung. Es ist die PENE (post-exertional neuro immune exhaustion = neuroimmune Entkräftung nach Belastung), die bei den Patienten furchtbares und anhaltendes Unheil anrichtet.



Deshalb gehört diese Krankheit gar nicht in eine Leitlinie Müdigkeit hinein. Sie ist da völlig fehl am Platze, denn Müdigkeit ist allenfalls ein temporäres Begleitsymptom, aber kein zwingend notwendiges Symptom, um die Krankheitskriterien zu erfüllen, und sie ist schon gar nicht das Kardinalsymptom. Wenn der Club der Professoren das nur begreifen wollte! Die dafür notwendigen intellektuellen Kapazitäten sollte man ihnen doch wohl zutrauen können, oder etwa nicht?

Leider ist man bei der DEGAM wohl gar nicht an diesen entscheidenden Details interessiert. Expertenrat – zu bekommen beispielsweise von Prof. Scheibenbogen und ihrem Team an der Charité sowie von anderen engagierten Experten – sucht man deshalb erst gar nicht. Die Damen und Herren Allgemeinmediziner glauben, in Bezug auf „CFS“ bzw. ME auf fachärztliche Beratung vollständig verzichten zu können. Dabei kommt ein Papier heraus, das einen medizinwissenschaftlichen Offenbarungseid dokumentiert. Wen wundert`s da, dass die DEGAM keinerlei Verantwortung und Haftung für inhaltliche Unrichtigkeiten übernehmen will! Aber die Hausärzte sollen dann die Verantwortung für die angeratenen Falschbehandlungen übernehmen? Oder am besten gleich die Patienten selbst?

Mit der Wahrheit scheint es die DEGAM-Präsidentin auch nicht allzu genau zu nehmen. Hatte sie mir nicht im Oktober vergangenen Jahres versichert, dass es „seitens der DEGAM […] definitiv in der nächsten Zeit keine Leitlinien zu CFS/ME […] geben wird“? Was anderes ist aber diese Leitlinie Müdigkeit? Das Kapitel „Chronisches Müdigkeitssyndrom (CFS)“ erstreckt sich über mehr als drei Seiten. Insgesamt hat das Dokument jedoch nur 33 Seiten (ohne Literaturangaben). Damit nimmt das Thema „CFS“ weit mehr Raum ein als jede andere darin abgehandelte Krankheit oder Störung. Da auch in anderen Abschnitten immer wieder auf „CFS“ Bezug genommen wird, bekommt man fast zwangsläufig den Eindruck, das Krankheitsbild „CFS“ sei sogar der eigentliche Anlass für die Erstellung dieser Leitlinie gewesen.

Doch die ME/“CFS“-Patienten wollen diese Leitlinie nicht. Über 6000 Menschen haben bereits meine Petition unterschrieben, die die ersatzlose Streichung sämtlicher Bezugnahmen auf „CFS“ und ME in dieser Leitlinie fordert. Und es werden täglich mehr … 




Mehr als 6000 Unterzeichner – dabei bekommen etwa 80% der Patienten gar nicht die richtige Diagnose, in Deutschland wahrscheinlich noch weit weniger, weil die Krankheit hierzulande immer noch nahezu unbekannt ist. Diese Patienten können wir mit der Petition nicht erreichen, weil sie gar nichts von ihrer eigentlichen Krankheit wissen.

Eine norwegische Studie zeigte jedoch, dass sich die Inzidenzrate bei den 10-17-Jährigen im Zeitraum von 2009 – 2014 mehr als verdoppelt hat. [Table 1] Die Krankheit ist auf dem Vormarsch, aber in Deutschland verschließt man die Augen davor und schickt mit Aktivierungsempfehlungen jedes Jahr Hunderte, wenn nicht Tausende von ME-Patienten in die Krankheitsprogression. Denn wegen irreführender Leitlinien wie der von der DEGAM wissen die Ärzte immer noch nicht, dass die Patienten eine signifikante Verschlechterung ihres Zustands durch Aktivierung riskieren!

Aber die Verfechter von unwissenschaftlichen psychogenen Verursachungstheorien wie beispielsweise die DEGAM und die DRV bedienen augenscheinlich lieber die Interessen von Versicherungsindustrie, Gesundheits- und Sozialkassen sowie Gesundheitsdienstleistern, als sich um die Kranken zu kümmern. Sie verweigern sich neuen biomedizinischen Erkenntnissen und verschließen die Ohren vor den Patientenstimmen, die vor den schädlichen Aktivierungsbehandlungen warnen.




Die wissenschaftliche Reanalyse der PACE Trial hat offenbart, dass diese Therapien – CBT und GET – nicht wirksamer als gar keine Therapie sind. Denn die Genesungsrate liegt im Bereich der Spontanremissionsrate für „CFS".

Und die Zahlen zu den aufgetretenen Nebenwirkungen schockieren: 46% der PACE Trial-Teilnehmer berichteten über eine Zunahme an ME/“CFS“-Symptomen, 31% über muskuloskeletale und 19% über neurologische Nebenwirkungen. Der Anteil derer, die negative Auswirkungen von CBT und GET erlebten, lag somit zwischen 46% und 96%. Folglich gibt es keinen einzigen triftigen Grund für die Empfehlung oder Verschreibung von CBT oder GET. Denn kein nur halbwegs vernünftiger Arzt würde auf die Idee kommen, seinen Patienten Therapien zu verschreiben, die im besten Fall nicht wirksam sind, im schlechtesten den Patienten in die Pflegebedürftigkeit manövrieren.

Bereits an die 100 Experten haben in einem offenen Brief von der Fachzeitschrift Psychological Medicine die Rücknahme einer Studie zu den Genesungsraten gefordert. Die PACE-Autoren hatten diese mit 22% sowohl für CBT- als auch für GET-Behandelte angegeben und geschlussfolgert, dass eine Genesung von „CFS“ mithilfe von CBT und GET möglich sei. Doch die Reanalysen ergaben ein anderes Bild: Die PACE-Autoren hatten die Genesungsraten durchschnittlich um das Vierfache aufgebläht.

Aber bedauerlicherweise erfahren Ärzte von diesen Reanalysen nichts und im guten Glauben, dem Patienten effektive, evidenzbasierte Behandlungen zu verordnen, schicken sie ihn geradewegs in die Krankheitsprogression hinein. 


Da keine wesentlichen Veränderungen an diesem Leitlinienentwurf zu erwarten sind, kann man jetzt schon absehen, welche katastrophalen Folgen die neue Leitlinie wieder für die Betroffenen haben wird. Denn um wenigstens finanzielle Unterstützung zu erhalten, müssen die krankheitsbedingt arbeitsunfähigen ME-Patienten sich auf Jahre hinaus auch weiterhin Rehabilitationsbehandlungen unterziehen, die ihnen nicht nur nicht helfen, sondern sie sogar noch kränker machen. Diese Leitlinie wird dafür sorgen, dass die Erkrankten auch zukünftig von Ärzten nicht ernst genommen, von Gutachtern verhöhnt, von der Gesellschaft verspottet und medizinisch, sozial und finanziell ausgegrenzt werden. Sie zementiert das Elend der ME-Kranken in unserem Land und besiegelt das grausame Schicksal von Schwerstbetroffenen wie meinen Töchtern. Und statt der Krankheit bekämpft unser Gesundheitssystem heute die Kranken. Zeit für einen Paradigmenwechsel!


Hier können Sie meine Petition unterschreiben.


Bildnachweise:

Alfons von Boddien, Drei deutsche Professoren entwerfen den Entwurf des Entwurfs für die Verfassung des deutschen Reichsheereswww.commons.wikimedia.org
Three Wise Monkeys, www.commons.wikimedia.org
Hieronymus Bosch, Christ Carrying the Cross (Detail)www.commons.wikimedia.org
Pieter Bruegel d. Ä., Two Chained Monkeyswww.commons.wikimedia.org
Georges de la Tour, Der Falschspieler mit dem Karo Asswww.commons.wikimedia.org
Domestic Chickenwww.commons.wikimedia.org
Francisco de Goya, El albañil herido, www.commons.wikimedia.org


Katharina Voss, Copyright 2017