Freitag, 8. Januar 2016

“Everybody`s got stress. Stress is normal.“


… ließ der an Myalgischer Enzephalomyelitis erkrankte amerikanische Filmregisseur Blake Edwards seinen Protagonisten Jack Lemmon in dem Film „That`s Life“ sagen. Stress zu haben, ist also normal und gehört zum Leben dazu. Die Menschen waren immer und zu allen Zeiten Stress ausgesetzt, wenn auch die Art der Belastungen sich geändert hat. Doch Stress für alle möglichen Krankheiten verantwortlich zu machen, das entspricht ganz unserem Zeitgeist.

Immer wieder halten auch ME-Patienten irrtümlich Stress für die Ursache ihrer Krankheit. Desgleichen Ärzte und Psychiater: Auch sie machen gern eine erhöhte Stressbelastung für die Erkrankung ursächlich verantwortlich – oftmals ohne zu explorieren, ob der Patient tatsächlich außergewöhnlichem Stress ausgesetzt war oder nicht. Verunsicherte Patienten sind leicht geneigt, sich dieser Auffassung anzuschließen, weil sie der Krankheit eine Ursache zu geben und einen „Sinn“ zu verleihen scheint und suggeriert, man müsse nur seinen Stress reduzieren, um wieder gesund zu werden. Doch das ist bei ME leider keine therapeutische Option, die zu Heilung führen würde.

Deshalb muss bei der Anamneseerhebung sorgfältig abgeklärt werden, ob der Patient vor Krankheitsbeginn tatsächlich nicht zu verkraftenden Stressoren ausgesetzt war, die für ein Burnout ursächlich verantwortlich zu machen sind, oder ob er zuvor ausreichend leistungsfähig war, um ein aktives Leben wie viele andere gesunde Menschen auch zu führen, deren Aktivitäten nicht zu einer Krankheit führen.



Ein hohes Aktivitätslevel ist nicht mit einer übermäßigen Stressbelastung zu verwechseln. Viele ME-Patienten sind bereits vor dem endgültigen Ausbruch der Krankheit gesundheitlich angeschlagen (z.B. durch Symptome, die bei einer milden Form von ME auftreten wie rezidivierende Infekte, Halsschmerzen oder auch ein allgemeines Schwächegefühl) und empfinden deshalb ihre normalen Aktivitäten zunehmend als Stressbelastung. Etlichen ME-Patienten erscheint ihr Leben vor Beginn der Erkrankung aber auch erst im Nachhinein als stressbelastet, da sie sich solche Aktivitäten krankheitsbedingt nicht mehr vorstellen können und sich nur bei dem bloßen Gedanken daran schon gestresst und überfordert fühlen.

Für eine differentialdiagnostische Abgrenzung zum Burnout, der durch extremen Stress verursacht wird, liefert die Reaktion des Patienten sowohl auf Ruhe als auch auf körperliche Belastung wichtige Hinweise. Im Gegensatz zum Burnout bessern sich die Symptome eines ME-Patienten durch Ruhe und die üblichen Rehabilitationsmaßnahmen wie Psychotherapie und sportliche Aktivitäten, die bei Burnout rehabilitierend wirken, nicht.

Ist eine übermäßige Stressbelastung also tatsächlich als Ursache der Erkrankung auszumachen, handelt es sich demzufolge nicht um ME oder „CFS“, sondern um ein Burnout. Die Frage, ob extremer Stress allerdings ein Auslöser für ME oder „CFS“ sein kann, wird von verschiedenen Krankheitsdefinitionen unterschiedlich beantwortet. Zwei Krankheitsdefinitionen, nämlich die Fukuda- und die IOM-Definition, erklären eine dem Krankheitsausbruch vorangehende andauernde oder exzessive Stressbelastung ausdrücklich zu einem Ausschlusskriterium. [1,2] In den Kanadischen Konsenskriterien (CCC) wird Stress als Krankheitsauslöser erst gar nicht erwähnt und die Internationalen Konsenskriterien (ICC) führen überhaupt keine Krankheitsauslöser an. [3,4] Lediglich im International Consensus Primer for Medical Practitioners wird übermäßiger Stress als ein mögliches der Krankheit vorausgehendes Ereignis aufgelistet, bildet jedoch das Schlusslicht in der Reihe prädisponierender Faktoren. [5]

Besonderer Beliebtheit erfreut es sich bei Anhängern psychogener Verursachungstheorien auch, das übertriebene Streben nach Perfektion mit ME und “CFS“ in Verbindung zu bringen. So ist oftmals von „überzogenem Leistungsdenken“, „chronischer Überforderung“ oder von einer „perfektionistischen Persönlichkeitsstruktur“ die Rede, selbst dann, wenn der Erkrankte sich nur wünscht, wieder an seinem erfüllten und ausgefüllten Vorleben anknüpfen zu können, dem er sich als Gesunder erfreuen durfte. Dieser Charakterisierungen bedienen sich manche Behandler sogar, wenn der Patient seine Ansprüche an ein normales Leben bereits weitgehend zurückgeschraubt hat und sich nichts weiter wünscht, als spazierengehen, sich wieder einmal duschen oder die Haare waschen zu können, ohne dass sich er sich davon erholen muss.



Manche Patienten fühlen sich durch solche Charakterzuschreibungen gut getroffen und lassen sich küchenpsychologische Deutungen von ihren Behandlern bereitwillig aufschwätzen, weil sie sich von solchen zweifelhaften Erkenntnissen und Einsichten gesundheitliche Besserung versprechen. Persönlichkeitsmerkmale als Krankheitsursache auszugeben, suggeriert nämlich, Heilung könne allein durch die Aufgabe dieser Eigenschaften erwirkt werden. Einige Patienten greifen die Hypothese vom angeblich krankmachenden Hang zum Perfektionismus auch deshalb so dankbar auf, weil es sich um die Zuschreibung einer sozial hoch im Kurs stehenden Eigenschaft handelt. Es ist nicht verwunderlich, dass jemand, der sich aufgrund seiner Krankheit als defizitär und als nicht vollwertiges Mitglied der Gesellschaft erlebt, sich eine Verursachungstheorie zu eigen macht, die ihm erlaubt, sich als im Grunde ganz besonders tüchtig und engagiert darzustellen. Denn im Gegensatz zu anderen Verursachungstheorien, die soweit gehen, die Existenz der Krankheit komplett zu verleugnen und die Patienten als Simulanten zu verhöhnen, legt diese Theorie dem Patienten nahe, er sei nicht etwa krank geworden, weil er ein Taugenichts und Faulpelz, sondern im Gegenteil ein besonders nützliches Mitglied der Gesellschaft gewesen sei. Das vermag immerhin das angeschlagene Selbstwertgefühl des Patienten zu reparieren.

Die „Perfektionismustheorie“ verleitet einige Patienten sogar dazu sich einzubilden, sie seien vom Schicksal auserwählt oder ausgezeichnet. Sich auf diese Weise geadelt zu fühlen, hilft manchem dabei, die Bürde der Krankheit besser zu ertragen. Wenn sich der Zustand des Patienten allerdings verschlechtert, das Leben des Patienten durch die Krankheit sukzessive zerstört wird und der Kranke merkt, dass der Verzicht auf Perfektionismus keineswegs zu einer Verbesserung seines Zustands geführt hat, nimmt er meist Abstand von dieser Verursachungshypothese, weil er sich um das Heilsversprechen betrogen fühlt.

Bedauerlicherweise befürworten auch nicht eben wenige Behandler die Verursachungshypothese vom „überzogenem Leistungsdenken“, „chronischer Überforderung“ oder von einer „perfektionistischen Persönlichkeitsstruktur“. Das ist u.a. auch dem Umstand zu verdanken, dass viele ME-Patienten ihr prämorbides Aktivitätsniveau bei einer Erstvorstellung oftmals maßlos übertreiben, nur um nicht für Simulanten oder Drückeberger gehalten zu werden. Dafür, dass die Krankheit ein so denkbar schlechtes Image hat, das insbesondere mit Simulantentum verknüpft ist, haben vor allem die britischen Psychiater der sogenannten Wessely School mit ihren verächtlichen Äußerungen über „CFS“- und ME-Kranke gesorgt. Um nun diesem Vorwurf, mit dem der Patient oftmals bereits nicht lange nach Krankheitsausbruch konfrontiert wird, zuvorzukommen, stellt er sein Vorleben gerne als hyperaktiv dar. So verwundert es nicht, dass manche Ärzte solch einen Patienten als übermäßig leistungsorientiert und perfektionistisch veranlagt beurteilen. Doch die Eventualität narrativer Verzerrungen die Vorgeschichte des Patienten betreffend, sollte vom Arzt bei der Anamneseerhebung immer mitberücksichtigt und allzu blumige Ausschmückungen des prämorbiden Arbeits- und Aktivitätspensums hinterfragt werden.

Aber auch wenn es manchen Ärzten und Patienten, die ihrem Schicksalsschlag einen Sinn verleihen möchten, dennoch so vorkommen mag: Perfektionismus oder ausgeprägter Ehrgeiz sind keine konstituierenden Faktoren einer ME. Die Verknüpfung einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur mit der Entstehung einer ME ist wissenschaftlich nicht belastbar, wie zahlreiche Studien belegen. [6] Selbst Psychiater Simon Wessely, Kopf der Wessely School, kam bei einer Studie, welche die Persönlichkeitsstruktur von „CFS“-Kranken untersuchte, zu dem Ergebnis, dass das „Stereotyp von CFS-Patienten als Perfektionisten“ (Ü.d.A.) nicht haltbar sei. [7]

Nicht selten muss auch eine posttraumatische Belastung als Ursache für die Erkrankung herhalten, sogar manchmal, ohne dass der Patient von einem Trauma außergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmaßes wie etwa schwerer körperlicher Gewalt, Missbrauch, Vergewaltigung, Folter oder Kriegserlebnissen berichten kann. Doch eine posttraumatische Belastungsstörung geht hauptsächlich mit einer krankhaften Veränderung des Seelenlebens einher, wohingegen ME-Patienten ganz überwiegend körperliche Symptome beklagen.



Einige Psychologen und Mediziner – allen voran der an der Universität Marburg lehrende und forschende Psychologieprofessor Urs Nater und Christine Heim, Direktorin des Instituts für Medizinische Psychologie der Charité Berlin – arbeiten seit Jahren daran, sexuellen und emotionalen Missbrauch sowie emotionale Vernachlässigung als Ursache für eine „CFS“-Erkrankung zu etablieren. Mit ihrer Studie aus dem Jahre 2009, Childhood Trauma and Risk for Chronic Fatigue Syndrom – Association with neuroendocrine dysfunction betitelt, wollen sie bei Probanden, die berichteten, einem Kindheitstrauma ausgesetzt gewesen zu sein, ein 6-fach erhöhtes Risiko „CFS“ zu bekommen, ausgemacht haben. [8]

Doch wenn man die Auswahlkriterien für die Probanden dieser Studie betrachtet, wird man feststellen, dass die Autoren Teilnehmer der berüchtigten Telefonbuchkohorte aus Georgia rekrutiert und die sehr weitgefasste empirische Krankheitsdefinition der CDC benutzt haben, eine extrem verwässerte Version der Fukuda-Definiton, die es möglich macht, einen arbeitsunwilligen, sozial inkompetenten und kontaktarmen Marathonläufer, der morgens schlecht aus dem Bett kommt, als „CFS“-Kranken zu diagnostizieren. [9] Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass sich unter den Studienteilnehmern tatsächlich „CFS“- oder gar ME-Patienten befanden, ist nicht besonders groß.

Außerdem wertete die Studie nur selbstberichtete Kindheitserfahrungen aus. Probanden, die wie hier in Fragebögen „über signifikant höhere Raten an Kindheitstraumen und psychopathologischen Symptomen als Kontrollgruppen“ (Ü.d.A.) berichten, [10] geben allenfalls ihre Meinung kund, nicht aber eine psychiatrische Diagnose. Denn es ist nicht möglich, sich selbst eine psychiatrische Diagnose zu stellen. Diese Probanden glaubten lediglich, Kindheitstraumen erlitten zu haben und an psychopathologischen Symptomen zu leiden. Doch da niemand eine gültige psychiatrische Selbstdiagnose stellen kann, handelt es sich hierbei nicht um eine gesicherte psychiatrische Diagnose, sondern nur um eine reine Meinungsäußerung der Probanden.

Das, was Nater et al. eigentlich untersuchen wollten, nämlich ob Kindheitstraumen tatsächlich ursächlich mit der Entwicklung eines „CFS“ in Verbindung zu bringen sind, haben sie also in Wirklichkeit gar nicht untersucht. Stattdessen haben sie eine Meinungsumfrage unter gesunden Kontrollen und (fraglichen) „CFS“-Patienten gemacht, von denen sich viele durch die Fragen des Fragebogens eingeladen oder aufgefordert fühlten, über Schreckliches aus ihrer Kindheit mit weitreichenden psychischen Folgen bis in die Gegenwart zu berichten. Ungeklärt bleibt dabei, ob sie diese Dinge wirklich erlebt haben und nachhaltig traumatisiert wurden, oder ob sich Ereignisse in der Rückschau mit Bedeutung aufgeladen haben, die in der Kindheit nicht traumatisierend waren und nun dem Patienten als sinnstiftende Erklärung für den schicksalhaften Ausbruch der Erkrankung dienen. Womöglich waren die Probanden sogar nur bemüht, die nicht zu übersehende Erwartungshaltung der Studiendesigner, die sich bereits aus deren Fragestellungen ergibt, zu erfüllen. Und viele von ihnen werden ihren artig ausgefüllten Fragebogen auch mit der mehr oder weniger unbewussten Erwartungshaltung abgegeben haben, Hilfe und eine Heilbehandlung für ihre körperlichen Probleme zu bekommen. (Mehr zu den Schwächen des Designs dieser Studie in meinem Buch.)

Bereits 2001 hatten der amerikanische Ergotherapeut Renée Taylor und der amerikanische Psychiater Leonard Jason zum Thema Kindheitstrauma und „CFS“ geforscht. Sie fanden heraus, dass die Prävalenzraten von sexuellem Missbrauch und Misshandlung bei Menschen mit „CFS“ vergleichbar sind mit denen, die man bei Individuen mit anderen Krankheiten findet: „Im Vergleich zu denen mit CFS, die über solche frühkindlichen Erfahrungen berichten, berichten die meisten Menschen mit CFS nicht über einen solchen Missbrauch.“ (Ü.d.A.) [11]

Der Prozentsatz „CFS“-Kranker, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht oder misshandelt wurde, ist dieser Studie zufolge also nicht größer als der z.B. Krebs- oder Herzkranker, und die meisten „CFS“-Kranken sind nicht sexuell missbraucht oder misshandelt worden. Taylors und Jasons Ergebnisse werden auch von anderen Studien gestützt. Der britische Professor für Jugendgesundheit Russel Viner und der britische Psychiater Matthew Hotopf beispielsweise konnten ebenfalls keinen Zusammenhang zwischen psychischen Belastungen, welcher Art auch immer, von Mutter oder Kind und einem erhöhten Risiko, “CFS/ME“ zu entwickeln, identifizieren – und Hotopf ist immerhin sogar ein Vertreter der britischen Wessely School! [12]



Ohnehin ist es methodisch fragwürdig, mit Hilfe von Fragebögen retrospektiv gewonnene Einsichten auszuwerten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Selbstberichtetes stets einer narrativen Verzerrung unterliegt. Kranke versuchen – wie alle anderen Menschen auch – einen Sinn in dem zu finden, was ihnen schicksalhaft zugestoßen ist, und so werden in der Rückschau Ereignisse möglicherweise als belastend und traumatisierend bewertet, die in der Vergangenheit keinerlei traumatisches Potenzial für den später erkrankten Patienten besaßen.

Aufschlussreich ist hierzu eine prospektive Studie mit 676 dokumentierten Fällen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit und einer Vergleichsguppe von 520 demographisch übereinstimmenden Kontrollen. [13] Untersucht wurde, ob ein Zusammenhang zwischen Viktimisierung in der frühen Kindheit und der Entwicklung einer Schmerzsymptomatik im Erwachsenenalter existiere. Es gab keinen Zusammenhang; jedoch war eine Schmerzsymptomatik signifikant assoziiert mit retrospektiv selbstberichtetem Missbrauch und retrospektiv selbstberichteter Misshandlung oder Vernachlässigung. Deshalb schlussfolgerten die Autoren, dass die allgemeine Annahme, medizinisch unerklärliche Schmerzen seien psychischen Ursprungs, in Frage zu stellen sei.

Eine weitere prospektive Studie zur Frage, ob Glück, Zufriedenheit, Wohlbefinden und ähnliche Empfindungen das Sterblichkeitsrisiko senken, kam zu dem Ergebnis, das dem nicht so ist. [14] Eine schlechte Gesundheit mache zwar traurig, unzufrieden und unglücklich, aber umgekehrt seien Traurigkeit, Unzufriedenheit oder das Gefühl unglücklich zu sein mit keinem erhöhten Krankheits- oder Mortalitätsrisiko verbunden. Diese Studie sollte, so kann man nur hoffen, diejenigen Patienten emotional entlasten, die glauben, selbst Schuld an ihrer Krankheit zu sein, weil sie ihre prämorbiden Gefühle von Unglücklichsein oder Unzufriedenheit fälschlicherweise ursächlich verantwortlich für ihre körperliche Erkrankung machen.



Die geradezu irrwitzige Überbewertung psychologischer Erklärungsmodelle, seien sie auch noch so laienhaft, ist ein offenbar schwer ausrottbares, grassierendes Übel unserer Zeit, das nicht nur Krankheitsverursachungstheorien betrifft, sondern mittlerweile auch weite Teile des Alltagslebens beherrscht. Man kann sich oftmals nicht des Eindrucks erwehren, dass es sich hierbei um eine Art Ersatzreligion zu handeln scheint.

Doch nehmen wir als Beispiel emotionalen Stress: Was ist das eigentlich und ab welchem Zeitpunkt entsteht emotionaler Stress? Man wird die Feststellung machen, dass selbst Gesunde unter emotionalem Stress etwas völlig Verschiedenes verstehen. Was der eine bereits als emotionalen Stress empfindet, ist für den anderen gerade mal erst die Warmlaufphase. Dann gibt es auch diejenigen, die völlig stressresistent sind, deren Gefühlshaushalt und Arbeits- und Aktivitätspensum keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen. Wieder andere verspüren zwar kein Stressgefühl und können großen Belastungen, auch emotionalen, offenbar mühelos standhalten, doch sie arbeiten, bis sie buchstäblich umfallen und mit einem Herzinfarkt in die Klinik eingeliefert werden.

Doch wird ein Herzinfarkt auch tatsächlich durch emotionalen Stress verursacht? Die Frage lässt sich wohl mit einem klaren Nein beantworten. Ein Herzinfarkt kann jedoch durch großen emotionalen Stress wie Ärger oder Freude ausgelöst werden, so Professor Stephan Baldus, Direktor des Herzzentrums der Universitätsklinik Köln, doch in aller Regel nur dann, wenn bereits eine Vorerkrankung wie beispielsweise eine Arteriosklerose der Herzkranzgefäße vorliegt. [15] Risikofaktoren für eine Arteriosklerose sind Bewegungsmangel, der zu hohem Blutdruck führen kann, welcher dann die Gefäßinnenwände schädigt, fett- und kalorienreiches Essen, das zu Übergewicht und hohen LDL-Cholesterinwerten führt, Tabakkonsum, der Ablagerungen in den Arterien fördern kann, sowie verschiedene Krankheiten wie z.B. Diabetes mellitus, Schilddrüsenüberfunktion, Rheumatoide Arthritis, genetische Veranlagung usw. [16] Doch diese Faktoren treffen auf Menschen, die nicht stressgeplagt sind, mindestens ebenso häufig zu. Es ist also nicht der Stress, der die Menschen krank macht, sondern schlechte Lebensgewohnheiten, die pathogene Körperprozesse bewirken, und/oder eine Kumulation von Krankheiten.



Ähnlich wie Professor Baldus die Frage beantwortet, ob emotionaler Stress einen Herzinfarkt auslösen kann, lässt sich womöglich auch die Frage beantworten, ob Stress, gleich welcher Art, ein Auslöser für ME sein könnte. Epidemische und Cluster-Ausbrüche weisen darauf hin, dass ME eine infektiöse Krankheit ist. Aufgrund der wachsenden Zahl von Hinweisen schlägt der International Consensus Primer for Medical Practitioners neuropathische Viren als mögliche primäre Ursache der Erkrankung vor. [5] Nach dieser Hypothese infizieren neuropathische Viren neurologische und Immunzellen und schädigen die Kapillaren und Mikroarterien im Zentralen Nervensystem. Diese initiale Infektion entfacht in der Folge eine tiefgreifende Fehlregulation der Immunantwort, die chronisch wird oder Autoimmunität bewirkt, sogar wenn der Level des infektiösen Agens vermindert ist.

Das ist eine plausible ätiologische Hypothese, derzufolge die neuropathischen Viren auch ganz allmählich diffuse Hirnschädigungen verursachen können. Der Infizierte nimmt unter solchen Umständen die Infektion möglicherweise nur als eine Art Hintergrundrauschen wahr und fühlt sich noch eine ganze Weile lang gesund und arbeitsfähig. Doch da die Leistungsfähigkeit des Infizierten langsam, aber stetig abnimmt, auf der anderen Seite der Berg unbewältigter Aufgaben jedoch anwächst, gerät der Infizierte zunehmend unter Stress. Mit jedem weiteren Tag, an dem die neuropathischen Viren ihr zerstörerisches Werk anrichten, sinkt die Stresstoleranzgrenze des Infizierten – bis zu dem Zeitpunkt, wo das System vor den Viren kapituliert und die Krankheit voll ausbricht.

Da bei dieser schleichenden Verlaufsform der Infizierte die initiale Infektion nicht bemerkt hat, glaubt er nun irrtümlich, der Stress habe seine Krankheit verursacht. Dabei ist in so einem Fall sogar fraglich, ob seine Krankheit auch nur durch Stress ausgelöst wurde. Im Grunde genommen ist hier der ansteigende Berg unerledigter Aufgaben und die begleitende Zunahme an Stressempfinden bereits eine Folgeerscheinung des schwelenden Krankheitsprozesses. Denn es ist doch nicht der zunehmende Stress, mit dem der Infizierte nicht mehr fertig wird, sondern es sind die sich mehrenden Schäden des Zentralen Nervensystems, die voranschreitende Immunfehlregulation sowie die sich ausweitenden Autoimmunprozesse, die, wenn sie überhand nehmen, zum vollen Ausbruch der Krankheit führen.



Weder Stress noch chronische Überforderung oder das übertriebene Streben nach Perfektion noch eine posttraumatische Belastungsstörung können eine ME verursachen oder auslösen: Es gehört immer wie die gut dokumentierten epidemischen und die Cluster-Ausbrüche zeigen – eine Infektion dazu, und zwar mit einem bislang nicht identifizierten Virus oder Retrovirus. Denn in Kriegs- und Nachkriegszeiten waren Millionen Menschen maximalem Stress oder chronischer Überforderung ausgesetzt und ganz besonders viele Menschen litten kriegsbedingt an einer posttraumatischen Belastungsstörung – ohne jedoch auffallend häufig an ME zu erkranken. Wenn die Krankheitstheorien von der posttraumatischen Belastung, chronischen Überforderung oder der erhöhten Stressbelastung als Ursache von ME also zuträfen, dann hätte nach dem Zweiten Weltkrieg ein signifikant hoher Anteil der europäischen Bevölkerung an ME erkrankt sein und, anstatt sich tatkräftig am Wiederaufbau zu beteiligen, flachliegen müssen. Doch das war sichtlich nicht der Fall. Die Krankheit war seinerzeit nicht annähernd so verbreitet wie heute.

Manchen ME-Patienten ist die Beantwortung der Frage, ob Stress, chronische Überforderung, eine posttraumatische Belastungsstörung oder aber ein Virus ihre Krankheit verursacht hat, völlig wurscht. Sie wünschen sich nur sehnlichst eine Heilbehandlung herbei. Doch die wird es nur dann geben, wenn Entscheidungsträger davon überzeugt werden bzw. nicht mehr abstreiten können, dass ME nicht durch psychische Faktoren, sondern durch ein (oder verschiedene) Pathogen(e) verursacht wird. Deshalb ist es unbedingt notwendig, zwischen Krankheitsursachen und Krankheitsauslösern und Folgeerscheinungen zu unterscheiden und sich eine differenzierte Betrachtungsweise der eigenen Krankheitsgenese zu erarbeiten. Denn Patienten, die entweder gedankenlos die durch keine seriöse Wissenschaft bewiesenen psychogenen Verursachungstheorien rezipieren oder sogar hartnäckig an ihnen festhalten, tragen (unwissentlich) zur Verhinderung der dringend benötigten biomedizinischen Erforschung der Krankheit und der Entwicklung eines entsprechenden Heilmittels bei.

Wenn die Patienten sich nicht denen, die ihre Krankheit psychopathologisieren, bagatellisieren, verleugnen oder sogar verhöhnen, selbst ans Messer liefern wollen, sollten sie all diese psychologischen Erklärungsmodelle ganz schnell über Bord werfen. Denn sonst werden werden sie noch viele weitere Jahrzehnte mit ineffektiven Ratschlägen wie ihren Stress zu reduzieren, mal Fünfe gerade sein zu lassen oder eine Psychotherapie zu machen bombardiert werden – und das wird sie viele Lebensjahre kosten, die Schwerkranken unter Umständen sogar das Leben.

Literaturangaben:

1 Keiji Fukuda et al. The Chronic Fatigue Syndrome: A Comprehensive Approach to Its Definition and
Study, Annals of Internal Medicine 1994
2 IOM Beyond Myalgic Encephaomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome - Redefining an Illness, National Academy of Sciences 2015
4 Carruthers, B M, van de Sande, M I [...], and Stevens, S Myalgic Encephalomyelitis: International
Consensus Criteria, Journal of INTERNAL MEDICINE 2011
5 Carruthers BM, van de Sande MI et al. MYALGIC ENCEPHALOMYELITIS – Adult &
Paediatric: International Consensus Primer for Medical Practitioners, 2012, The National Library of Canada Cataloguing-in-Publication Data: ISBN 978-0-9739335-3-6
6 Studienbeispiele:
Pheby, Derek; Saffron, Lisa Risk factors for severe ME/CFS, Biology and Medicine 2009
Courjaret J, Chronic fatigue syndrome and DSM-IV personality disorders, J Psychosom Res. 2009
Blenkiron P, Edwards R, Lynch S Associations between perfectionism, mood, and fatigue in chronic  
fatigue syndrome: a pilot study, J Nerv Ment Dis. 1999
Buckley L, MacHale SM, Cavanagh JT, Sharpe M, Deary IJ, Lawrie SM Personality dimensions in  chronic fatigue syndrome and depression, J Psychosom Res. 1999
Naess, Halvor; Nyland, Morten; Hausken, Trygve; Follestad, Inghild and Nyland, Harald I Chronic  
fatigue syndrome after Giardia enteritis: clinical characteristics, disability and long-term sickness
absence, BMC Gastroenterology 2012
Hempel S, Chambers D, Bagnall AM, Forbes C. Risk factors for chronic fatigue syndrome/myalgic
encephalomyelitis: a systematic scoping review of multiple predictor studies, Psychol Med. 2008
7There was no evidence from this study of major differences between the personalities of CFS
patients and RA patients. The stereotype of CFS sufferers as perfectionists with negative
attitudes toward psychiatry was not supported.” Zitiert aus Wood B, Wessely S. Personality and social attitudes in chronic fatigue syndrome, J Psychosom Res. 1999
8 Heim, Christine; Nater, Urs M.; Maloney, Elizabeth; Boneva, Roumiana; Jones, James F.; Reeves,
William C. Childhood Trauma and Risk for Chronic Fatigue Syndrom – Association with neuroendocrine dysfunction, Arch Gen Psychiatry. 2009
9 William C Reeves […], Elizabeth R Unger, Suzanne Vernon and Christine Heim Chronic Fatigue Syndrome – A clinically empirical approach to its definition and study, BMC Medicine 2005
10Individuals with CFS reported significantly higher levels of childhood trauma and psychopathological symptoms than control subjects.“ Zitiert aus Heim, Christine et al. Childhood Trauma and Risk for Chronic Fatigue Syndrom – Association with neuroendocrine dysfunction, Arch Gen Psychiatry  2009
11 “Relative to those with CFS who report such history, most individuals with CFS did not report histories of interpersonal abuse.“ Zitiert aus Jason, Leonhard Problems with theNew CDC CFS Prevalence Estimates, nachzulesen auf
http://www.iacfsme.org/IssueswithCDCEmpiricalCaseDefinitionandPrev/tabid/105/Default.aspx
(Abruf 16.01.15)
Taylor RRJason LA Sexual abuse, physical abuse, chronic fatigue, and chronic fatigue syndrome: a community-based study, J Nerv Ment Dis. 2001
12 Viner, Russell; Hotopf, Matthew Childhood predictors of self reported chronic fatigue
syndrome/myalgic encephalomyelitis in adults: national birth cohort study, BMJ 2004
13 Raphael KG, Widom CS, Lange G Childhood victimization and pain in adulthood: a prospective investigation, Pain. 2001
14 Bette Liu et al. Does happiness itself directly affect mortality? The prospective UK Million Women Study, The Lancet 2015
15 Tanja Pöpperl Kann Ärger einen Herzinfarkt auslösen?, Apotheken-Umschau 11.11.2015 http://www.apotheken-umschau.de/Herzinfarkt/Kann-Aerger-einen-Herzinfarkt-ausloesen-278879.html (Abruf 5.01.16)
16 Andrea Bannert Arteriosklerose, NetDoktor o.J., http://www.netdoktor.de/krankheiten/arteriosklerose/#TOC2 (Abruf 5.01.16)

Bildnachweise:

Ernst Ludwig Kirchner, Straßenbild vor dem Friseurladenwww.commons.wikimedia.org
Ernst Ludwig Kirchner, Das Bad des Kranken, Galerie Henze & Ketterer & Triebold © Wichtrach/Bern
Francisco de Goya, Saturn verzehrt eines seiner Kinder, www.commons.wikimedia.org
Edvard Munch, Der Schreiwww.commons.wikimedia.org
Edvard Munch, Melancholiewww.commons.wikimedia.org
Pieter Bruegel d. Ä., Schlaraffenland, www.commons.wikimedia.org  
Edvard Munch, Abend auf der Karl Johans gatewww.commons.wikimedia.org 


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