Montag, 15. Februar 2016

Führt das Robert Koch-Institut uns an der Nase herum?

  
Zuerst die schlechte Nachricht: Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gibt normalerweise keinen Cent für die Erforschung der Myalgischen Enzephalomyelitis und des „Chronic Fatigue Syndroms“ aus.

Und nun die gute: Im vorletzten und letzten Jahr hat das BMG mal richtig was springen lassen für die „ME/CFS“-Patienten. Es hat nämlich das Robert Koch-Institut (RKI), die zentrale Einrichtung des Bundes im Bereich der Öffentlichen Gesundheit zur Erkennung, Verhütung sowie Bekämpfung von Krankheiten“, [BMG, 2016] um einen Bericht zum derzeitigen Erkenntnisstand bezüglich des Krankheitsbildes gebeten.

Vielleicht hätte ich es andersrum sagen müssen, nämlich so: Die gute Nachricht ist, dass das BMG nichts für “ME/CFS“ ausgibt und die schlechte, dass es heuer was hat springen lassen. Denn um es gleich vorwegzunehmen: Das RKI hat sich bei der Erstellung des Reports mit dem Titel „Erkenntnisstand zum „Chronic Fatigue Syndrome“ (CFS)“ nicht mit Ruhm bekleckert. [RKI, 2015] Das Papier, das ohne Literaturliste und Anhänge gerade einmal 11 ½ Seiten umfasst, ist mehr als dürftig und die Fakten sind so schlampig recherchiert, dass es kaum lohnt, sich inhaltlich näher mit diesem sprachlich aufgeblähten Quark auseinanderzusetzen. Deshalb möchte ich mich nur auf drei Aspekte fokussieren.



Woher das plötzliche Interesse für unsere Krankheit?


Zunächst einmal werde ich aber der Frage nachgehen, wie es überhaupt zu diesem Projekt kam. Denn für gewöhnlich werden hierzulande die Belange der „ME/CFS“-Patienten bekanntermaßen komplett ignoriert. In der Einleitung des Reports, großsprecherisch „Präfix“ betitelt, werden wir darüber informiert, dass das RKI seinen Auftrag vom BMG „auf Anregung der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG)“ bekam. [RKI, 2015, S.3] Aber wer oder was hatte die AOLG, die dieses Thema seit über 15 Jahren verschlafen hatte, zu diesem Schritt bewogen?

Recherchieren wir weiter, stoßen wir auf den Namen Alexander Schweitzer, ehemaliger Gesundheitsminister von Rheinland-Pfalz. Seine Abteilung brachte das Thema „ME/CFS“ in die AOLG ein. Nun kommt ein Gesundheitsminister gewiss nicht von alleine auf die Idee, sich für die Belange von Kranken einzusetzen, die von unserem Gesundheitssystem zumeist als Simulanten, Drückeberger oder Verhaltensgestörte gebrandmarkt werden und deren Krankheit in aller Regel – entgegen der WHO-Einordnung – nicht als organpathologisch betrachtet wird.

Und siehe da, Herr Schweitzer ist tatsächlich nicht von selbst auf die Idee gekommen, sondern eine Gruppe namens Initiativgruppe ME/CFS Rheinland-Pfalz, bestehend aus einem Psychologen und mehreren psychologischen Psychotherapeuten, hat ihn mit der Nase auf dieses Thema gestoßen.

Die führenden Köpfe dieser Gruppe hatten sich mit dem Film In engen Grenzen – Leben mit CFS einen Namen gemacht, bei dem auch meine Töchter und ich die Ehre hatten mitzuwirken. Das ist ein im Kern guter, informativer Film, der schon dem einen oder anderen Betroffenen zu mehr Verständnis seiner Angehörigen oder Ärzte verholfen hat. Doch zwei ZDF-Reportagen, die danach über uns gedreht wurden, machten mir den Unterschied deutlich, ob ein Filmteam einen Film über uns macht oder mit uns. (Die ZDF-Reportagen sind hier und hier anzusehen.)

Genau da liegt auch das Problem: In der Initiativgruppe ME/CFS Rheinland-Pfalz gibt es nur einen einzigen Erkrankten. Alle anderen Mitglieder sind nicht betroffen, hatten sich aber der ehrenamtlichen Aufgabe verschrieben, die Situation für die „CFS“-Kranken in Deutschland verbessern zu wollen. Das ist sehr verdienstvoll, doch gut gemeint ist eben nicht unbedingt gut. Und wenn man über die Köpfe der Patienten hinwegarbeitet anstatt mit ihnen zusammen und wenn man zudem zu wenig über den unlauteren Umgang der politischen Institutionen mit dieser Krankheit in den letzten 30 Jahren weiß, kann es zu so desaströsen Resultaten wie dem RKI-Report kommen. Die Initiativgruppe ME/CFS Rheinland-Pfalz hat den „ME/CFS“-Kranken in unserem Land letztlich einen Bärendienst erwiesen.

Psychologen – die „Retter“ der „ME/CFS“-Kranken?


Dass ausgerechnet eine Gruppe von Psychologen sich des Themas angenommen hatte – wenn auch in offensichtlich guter Absicht –, ist einem Teil der deutschen Patientengemeinde schon frühzeitig aufgestoßen. Das Misstrauen war groß. Aber zerstört wurde das Vertrauen vieler Betroffener erst, als die Initiativgruppe ME/CFS Rheinland-Pfalz ein windelweiches Positionspapier für die Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz entwarf, das, neben Ärzten, Psychotherapeuten für die Behandlung „ME/CFS“-Kranker forderte und unter der Zwischenüberschrift „ME/CFS-Kranke brauchen Psychotherapeuten und Ärzte“ postulierte: „Ein Teil der erforderlichen diagnostischen und therapeutischen Leistungen kann und sollte von Psychotherapeuten erbracht werden.“ (Bei einer anderen organischen Krankheit, nehmen wir Krebs als Beispiel, käme niemand auf die Idee, Psychotherapeuten bei Diagnostik und Therapie der Krankheit zu beteiligen; lediglich in der psychosozialen Nachsorge werden Psychotherapeuten eingebunden und auch nur dann, wenn die Patienten dies ausdrücklich wünschen.)

Was ist da schiefgelaufen? Die Unterstützung des Anliegens der „ME/CFS“-Kranken durch außenstehende Psychologen hätte nur dann gutgehen können, wenn diese fähig gewesen wären, sich von ihrer eigenen Zunft zu distanzieren. Indem sie beispielsweise auf das durch ihre Disziplin verursachte enorme Leid der Erkrankten hingewiesen hätten; indem sie ihre Wissenschaft in Frage gestellt und die Verbrechen von so vielen Psychiatern, Psychosomatikern und Psychologen an den Erkrankten angeprangert hätten; indem sie ihre therapeutischen Hilfsangebote als nachrangig eingeordnet und an erster Stelle lautstark biomedizinische Forschung eingefordert hätten; indem sie ihre Untersuchungsmethoden auf ihre eigene Disziplin angewendet und sich gefragt hätten, welche Entlastungsfunktion pseudopsychologische Erklärungsmodelle für eine organpathologische Krankheit haben und welche institutionelle Abwehrfunktion sie erfüllen. Aber sie hatten wohl nicht den Mut, sich mit ihrer Kollegenschaft anzulegen. Deshalb kündigten sie als erstes die Zusammenarbeit mit den Patienten auf, die vehement gegen die Psychopathologisierung der Krankheit ankämpfen.

Noch bevor das RKI dann seine Arbeit überhaupt aufgenommen hatte, feierte die Initiativgruppe ME/CFS Rheinland-Pfalz sich schon mal auf der Website einer Patientenorganisation für ihren Erfolg. Die Mitteilung Minister Schweitzers, dass das RKI mit der Sache betraut worden sei, wurde als „frohe Botschaft“ verkündet, die „nicht auf die Weihnachtszeit beschränkt“ sei und „alle politischen Erwartungen der häufig ohnmächtigen und verzweifelten Kranken und ihrer Angehörigen“ übertroffen habe. Was die tatsächlichen Erwartungen der „ohnmächtigen und verzweifelten Kranken“ angeht, darüber schien man sich offenbar nicht informiert zu haben. Denn die möchten ihre organische Krankheit weder von Psychotherapeuten diagnostizieren und therapieren lassen, noch können sie Verständnis für den mageren „Erkenntnisstand“ des RKI aufbringen, dessen Arbeitsgruppe immerhin mindestens ein volles Jahr an dem Bericht gewerkelt hat.

Das Resultat der Bemühungen? Ein Scherbenhaufen!


Wie die Initiativgruppe inzwischen zu den Ergebnissen des RKI-Reports steht und den damit verbundenen fatalen Auswirkungen für die Erkrankten in unserem Land, ist mir nicht bekannt. Zumindest die Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz hält den RKI-Report für „eine gute Grundlage für weiterführende Forschungsaktivitäten zum Krankheitsbild der ME/CFS.“ [LPK] 

Doch eine Grundlage für Forschungsaktivitäten stellt der Report eben gerade nicht dar – ganz im Gegenteil. Vielmehr ist zu befürchten, dass der RKI-Report mit seinen inadäquaten Empfehlungen, auf weitergehende Labordignostik zu verzichten und die Patienten mit Graded Exercise Therapy (GET) und Kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) zu behandeln, die ohnehin katastrophale Lage für die Erkrankten nun auf viele weitere Jahre zementiert. Ob solche für „ME/CFS“-Kranke völlig nutzlosen und häufig schädlichen psychologischen bzw. psychiatrischen Behandlungsmethoden mittlerweile ganz im Sinne der rheinland-pfälzischen Psychologentruppe sind, wissen wir nicht. Wenn ja, dann würde das alle Kernaussagen ihres 2012 herausgebrachten Films über den Haufen werfen.

Diese Gruppe politisch unbeleckter Gesunder, an die auch die Patienten ihre Hoffnungen geknüpft hatten, glaubte anscheinend, es würde ausreichen auf Schmusekurs mit den Mächtigen zu gehen, um für die „ME/CFS“-Kranken in diesem Lande etwas zu bewegen. Sie setzte sich über die Warnungen und die Kritik einiger in der Auseinandersetzung mit den Gesundheitsbehörden und -institutionen kampferprobter ME-Aktivisten hinweg, weil sie meinte, sie könnte Politik machen, ohne die Betroffenen einzubinden. Das hat sich nun bitter gerächt. Für die Patienten ist das nicht nur deprimierend, sondern sie fühlen sich darüber hinaus auch noch entmündigt, und zwar doppelt, einmal durch die offizielle Politik, aber auch durch den präpotenten Alleingang der Mitglieder dieser Initiative. Die Initiativgruppe ME/CFS Rheinland-Pfalz scheint ihre Aktivitäten inzwischen eingestellt zu haben – jedenfalls hört man nichts mehr von ihr – und überlässt nun offenbar die Erkrankten dem Scherbenhaufen, der das Resultat ihrer naiven und unbedachten Politik ist.

„CFS“ eine Umwelterkrankung?


Zurück zu diesem Scherbenhaufen, dem RKI-Report. Die Erkenntnisse sollten, so lesen wir in der Vorrede des Papiers, „im Rahmen der Arbeit der Kommission Umweltmedizin“ aufgearbeitet werden, denn das „Chronic Fatigue Syndrome“ werde „häufig als Umwelterkrankung“ angesehen. [RKI, 2015, S.3]

„CFS“ eine Umwelterkrankung? So ist es zwar – ohne plausiblen Begründungszusammenhang – auf diversen Webseiten zu lesen, doch bei näherer Betrachtung ist das schon eine ziemlich erstaunliche Sichtweise und man sollte meinen, sowohl Auftraggeber BMG als auch das RKI hätten es von Anfang an besser wissen müssen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass schon die Prämisse, die auftragsgemäß untersucht werden sollte, von der Infektiosität und der vielfach dokumentierten Übertragbarkeit der Krankheit ablenken sollte.

Reden wir jetzt mal nicht von der Myalgischen Enzephalomyelitis, die historisch betrachtet ohnehin in erster Linie mit infektiösen epidemischen Ausbrüchen in Verbindung gebracht wurde. Reden wir mal nur vom „Chronic Fatigue Syndrom“, dessen Name 1988 durch die sogenannte Holmes-Definition geprägt wurde. [Holmes et al., 1988] Doch welches Ereignis veranlasste die amerikanischen Gesundheitsbehörden überhaupt, diese Definition zu erschaffen? Der epidemische Ausbruch am Lake Tahoe in Nevada im Jahre 1984. [Holmes et al., 1987; Johnson, 1997] Und auf den Daten welcher Patientenpopulation beruhte die Holmes-Definition? Auf eben denen der Opfer dieses epidemischen Ausbruchs. *

Wie bei einer infektiösen Krankheit mit neurologischer und immunologischer Symptomatik nicht anders zu erwarten, zeigte eine gründlich begutachtete Patientenkohorte des Lake Tahoe-Ausbruchs – für die also die erste Chronic Fatigue Syndrom-Definition mit den Holmes-Kriterien ursprünglich geschaffen worden war – chronische, immunologisch vermittelte entzündliche Prozesse des Zentralnervensystems. MRT-Scans des Gehirns offenbarten bei 78% der Untersuchten Hinweise auf Ödeme oder Demyelinisation. (Laut Dr. Paul Cheney sagte ein Neuroradiologe, die Scans sähen aus wie die von AIDS-Patienten. Siehe hier, Min. 4:22.) Bei 70% der Patienten fand man in primären Lymphozytenzellkulturen aktive Replikation von HHV-6, die nach Einschätzung der Autoren der Studie eine Reaktivierung einer latenten Infektion aufgrund einer immunologischen Dysfunktion darstellten. Der Mittelwert der CD4/CD8 T-Zell-Ratio war bei den Patienten höher als bei den gesunden Kontrollen. [Buchwald et al., 1992] All diese Ergebnisse deuteten zusammen mit der Tatsache, dass die Krankheit plötzlich und massenhaft in einer kleinen, geographisch abgelegenen Region auftrat, auf eine infektiöse, übertragbare Krankheit hin.

Epidemien und Cluster – eine infektiöse Krankheit


Bei gewissenhafter Literaturrecherche hätte das RKI, zu dessen „wichtigsten Arbeitsbereiche(n) … die Bekämpfung von Infektionskrankheiten“ gehört, erkennen müssen, dass nicht nur die (nicht angeführte) erste ME-Krankheitsdefinition von Melvin Ramsay, [Ramsay, 1986] sondern sogar auch die erste „CFS“-Definition als Antwort auf einen infektiösen epidemischen Krankheitsausbruch kreiert worden war. Denn die beiden Hauptautoren der Definition Gary Holmes und Jon Kaplan waren die nämlichen jungen, unerfahrenen Epidemiologen, die die CDC* seinerzeit nach Incline Village geschickt hatte, um die alarmierende „neue“ Epidemie am Lake Tahoe zu untersuchen. [Holmes et al., 1987; Johnson, 1997] Die Autoren der Holmes-Definition vermieden es zwar, den epidemischen Ausbruch am Lake Tahoe und alle früheren ME-Ausbrüche zu erwähnen, doch die vier Jahre später vorliegenden Untersuchungsergebnisse von Buchwald et al. enthüllten glasklar den infektiösen Charakter der Krankheit, inklusive Immundysfunktion, Inflammation und Gehirnschäden ihrer Opfer.  

Wie will die Umweltmedizinkomission des RKIs also einen glaubwürdigen und nachvollziehbaren Erkenntnisstand präsentieren, wenn es ihren Mitgliedern offenkundig an historischem Basiswissen mangelt? „CFS“ – eine Umwelterkrankung? Es gibt zwar hinreichend Belege, dass die Krankheit durch Umweltgiftstoffe ausgelöst werden kann und dass die Patienten, nachdem die Krankheit ausgebrochen ist, überempfindlich auf bereits geringste Mengen an Umweltgiftstoffen reagieren. [Carruthers et al., 2012] Jedoch mangelt es an Belegen für eine primäre Umwelterkrankung – übrigens nicht zuletzt auch deshalb, weil dieser Aspekt bislang nicht hinreichend erforscht wurde. Zu diesem Schluss kam nach Sichtung der Literatur auch die Kommission Umweltmedizin des RKIs. [RKI, 2015, S. 3] Das wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, die Aufgabe an einen adäquaten Kompetenzbereich abzutreten. Aber das passierte leider nicht.

Hoppla! Zu welcher Krankheit wurde eigentlich recherchiert?


Stattdessen hat man, nach Meinung der RKI-Kommission, „die wichtigsten Übersichtsarbeiten in der Literatur der letzten fünf Jahre herausgefiltert und ausgewertet“. 
Doch zu welcher Krankheit hat man eigentlich die „wichtigsten Übersichtsarbeiten“ ausgewertet? Es ist von Patienten die Rede, die „körperlich deutlich weniger aktiv als gesunde Kontrollpersonen“ seien und „nur 68% normaler physischer Aktivität“ erreichten. [RKI, 2015, S. 12, nach Evering et al., 2011] 68%? Davon können die meisten „ME/CFS“-Kranken nur träumen! Es wäre phantastisch, wenn sie 68% normaler physischer Aktivität besäßen oder wenn es ein Medikament gäbe, dass die Betroffenen in die Lage versetzen würde, wenigstens ihren Haushalt bewältigen oder eine Dusche nehmen zu können, ohne eine Zustandsverschlechterung nach Belastung zu riskieren.

Nein, zu dieser Patientenkohorte hat man offenbar nicht recherchiert. Denn den Autoren scheint entgangen zu sein, dass es zur Diagnosestellung erforderlich ist, dass das Aktivitätsniveau des Patienten im Vergleich mit dem vor seiner Erkrankung um mindestens 50% reduziert sein muss – und zwar nicht nur nach den Kanadischen Konsenskriterien und den Internationalen Konsenskriterien, sondern auch nach denen der "CFS"-Definition von Holmes et al., und ja, sogar auch nach denen der von der psychiatrischen Wessely School geschaffenen Oxford-Kriterien. Wobei Patienten mit einer 50%igen Reduktion im Übrigen nur als mild erkrankt gelten.

Und nein, die Erkrankten entwickeln auch kein „Vermeidungsverhalten“ aus „Angst vor Verschlechterung“, wie dann weiter schwadroniert wird, und sie sind auch nicht „müde von der Inaktivität“. [RKI, 2015, S. 12, nach Nijs et al., 2011] Sie sind schlicht zu krank, um aktiv sein zu können, und jede weitere geringe Aktivität verschlimmert ihre Symptomatik, obwohl sie nichts lieber hätten, als an ihr prämorbides aktives Leben wieder anknüpfen zu können. „Müde“ sind ME-Patienten ohnehin nicht bzw. nicht mehr als andere chronisch kranke Menschen auch; Müdigkeit ist nach den Krankheitsdefinitionen für ME kein Symptom, geschweige denn ein Kardinalsymptom. Post-exertional neuroimmune exhaustion=PENE (neuroimmune Entkräftung nach Belastung) ist das Kardinalsymptom der ME – ein Symptom, das durch zahlreiche Studien zweifelsfrei belegt und objektiv messbar ist. (Vgl. mein Buch, S. 186 u. S. 53f u. S. 68f)

Die wichtigsten neuen Studien – unter den Tisch gefallen!


Als nächstes stellt sich die Frage, warum so viele ganz besonders wichtige Studien in dem Report fehlen. Beispielsweise die Studien, die eine Zustandsverschlechterung nach Belastung objektivieren. [Twisk und Maes, 2009; Light et al., 2009; Snell et al., 2010; White et al., 2010; Snell et al., 2013; Keller et al., 2014; Vermeulen und Vermeulen van Eck, 2014; Lengert und Drossel, 2015] Oder Studien zur Immundysfunktion, wie z.B. die 2014 publizierte Studie australischer Autoimmunforscher, die bei bettlägerigen und moderat erkrankten ME/“CFS“-Patienten signifikante Veränderungen aller untersuchten Zelltypen des angeborenen wie des erworbenen Immunsystems fanden, mit der Tendenz größerer Abweichungen bei den schwer Erkrankten. [Marshall-Gradisnik et al., 2014] Ebenso fehlen wichtige neue Gehirnstudien, wie etwa die im Juni 2014 veröffentliche Studie von Watanabe et al., die Belege für Neuroinflammation in ausgedehnten Hirnarealen „ME/CFS“-Kranker lieferte, die jeweils mit der Schwere der neurologischen Symptome verknüpft war. [Watanabe et al., 2014] Außerdem eine im Februar 2015 veröffentlichte Studie der Stanford University, die großes mediales Interesse erregte, weil sie gleich drei Gehirnanomalien bei ME/“CFS“-Patienten identifizierte. [Zeineh et al., 2015]

Gänzlich unverständlich ist, dass das RKI die erfolgreiche norwegische Behandlungsstudie mit dem Krebsmedikament Rituximab einfach unter den Tisch fallen ließ, die doch als medizinische Sensation gilt. [Fluge et al., 2011] Zumal der Report anstandslos und unhinterfragt die Resultate der fehlerhaften PACE trial für seine Behandlungsempfehlungen zugrundelegt, deren krasse Mängel auch jedem Nicht-Wissenschaftler ins Auge stechen. [RKI, 2015, S. 13f] Man fragt sich unwillkürlich, ob diese Vorgehensweise Methode hat. (Sehen Sie zur PACE trial auch das bemerkenswerte Schaubild des ME-Aktivisten Peter Kemp. Hier wird deutlich, dass der Studienleiter der PACE trial Peter White die 60 Punkte auf der SF-36-Skala wahlweise als Normalbereich, „CFS“-Diagnose oder Genesung von „CFS“ wertet. Bei der Registrierung der Studie wurden übrigens noch 75 Punkte bereits als „CFS“-Diagnose gewertet. Der Durchschnittswert für 75-84-Jährige beträgt 57.9 Punkte. [Bowling et al., 1999, Table 3] Die Teilnehmer der PACE trial waren aber im Schnitt nur 38 Jahre alt. Normalbereich für diese Altersklasse ist ein Punktwert von 93.3.)

Auch für die Auswertung der am 1. Februar 2015 unter noch größerer Medienanteilnahme publizierten Studie von Hornig et al., die eindeutige Nachweise für die immunologische Fehlfunktion und für eine krankheitsspezifische Immunsignatur bei den „ME/CFS“-Patienten erbrachte, wäre noch reichlich Zeit gewesen. [Hornig et al., 2015] (Diese Studie wird übrigens – ebenso wie die Rituximab-Behandlungsstudien – allgemein als Beleg dafür gewertet, dass die Krankheit biomedizinische Ursachen hat und nicht psychogen ist.)

Denn veröffentlicht wurde der RKI-Report erst am 9.07.2015Spätestens ab Mitte Juli wurde er in den sozialen Netzwerken diskutiert. Wie zu erwarten, hagelte es massive Kritik, z.B. auch von meiner Wenigkeit.









Will man uns einen Bären aufbinden?


Unter diesem Link war die Publikation ursprünglich abzurufen. Doch das ist nun ein toter Link.




Können Sie den Text in der Adresszeile erkennen? Da steht geschrieben: http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GesundAZ/Content/C/Chron_Fatigue_Syndrom/CFS_Erkenntnisstand_2015.pdf?__blob=publicationFile

Dieser Link führte also im Sommer 2015 zu dem Report. Der Link, der inzwischen zum RKI-Report führt, ist jetzt „RKI-Bericht zum Chronic Fatique Syndrome (Januar 2015) …“ benannt und 
hier zu finden. Ganz unten auf dem Screenshot sehen Sie den Titel des Links und in der letzten Zeile das Datum 9.07.2015.




Das verwundert uns nun doch. Ein Report, der im Januar fertiggestellt worden ist, wurde erst im Juli veröffentlicht? Wieso das? Welche Gründe könnte es dafür geben? Hat man vielleicht noch auf die Veröffentlichung von Studien gewartet, die dem Tenor des Reports entsprechen? Wurde der Report womöglich, als die Erwartung sich nicht erfüllt hat, sogar vorzeitig und in aller Eile veröffentlicht, nachdem am 1.07.2015 die zweite erfolgreiche norwegische Rituximab-Studie herauskam? [Fluge et al., 2015]

Oder wurde der Report etwa – und das wäre atemberaubend! – rückdatiert? Und wollte man vielleicht auf diese Weise – mit einer etwaigen Rückdatierung – auf den Vorwurf von Patienten reagieren, die monierten, dass das RKI so viele wichtige Studien des Jahres 2014 und des ersten Quartals 2015 nicht in seine Auswertung einbezogen hatte? Es wäre zumindest schwer zu begründen gewesen, warum man nicht in der Lage gewesen sein sollte, innerhalb eines Jahres (Endstand der Recherche 22.07.2014 (S.4), Veröffentlichung 9.07.2015) noch die wichtigsten neuen Studien zu berücksichtigen.

Es stellt sich also ernsthaft die Frage, ob der Report einfach kurzerhand rückdatiert wurde.

Im RKI-Report, den die LPK über ihre Seite ins Netz gestellt hat, findet sich auf dem Deckblatt der Eintrag: „Datum: Januar 2015“. Wie kommt es zu diesen zwei verschiedenen Versionen des Deckblatts? Sollen die Patienten an der Nase herumgeführt werden? Spielt man Katz und Maus mit uns?



Fragen über Fragen …
Auf die Antworten bin ich seltsamerweise nicht besonders gespannt. Woran das wohl liegen mag? „Verzäll mer kei Kreppche“, sagt man in Köln, wenn jemand einem etwas Unwahrscheinliches aufschwätzen will …

Fazit: Der RKI-Report ist nicht nur so überflüssig wie ein Kropf, er ist für die Patienten extrem schädlich. Dieser Bericht erstickt eine potentielle biomedizinische „ME/CFS“-Forschung in Deutschland im Keim. Für die Anhänger der psychogenen Verursachungstheorie ist er ein gefundenes Fressen. Eine „Dysregulation“, ausgelöst durch „Infektionen“ und/oder „physiologische(n) und psychosoziale(n) Stress“, aufrechterhalten durch die „Fokussierung auf die Symptome“ und „eine unterschätzende Perzeption der eigenen Leistungsfähigkeit“, [RKI, 2015, S. 7f] die angeblich mit psychiatrischen Behandlungsmethoden behandelbar ist? [RKI, 2015, S. 12f] Das ist psychiatrische Wessely School in Reinkultur und die Psychopathologisierung der Patienten wird dazu führen, dass man noch mehr Erkrankte mit GET und CBT in die Bettlägerigkeit therapieren wird. Der Hinweis auf die Kontraproduktivität einer „„Psychiatrisierung““ der Patienten und die Aufforderung, sie mit ihren „Beschwerden“ ernstzunehmen und sie medizinisch und sozial zu unterstützen, bleibt also ein reines Lippenbekenntnis. [RKI, 2015, S. 14] Würde man sie tatsächlich ernstnehmen, hätte man den Untersuchungsberichten der norwegischen und irischen Patientenorganisationen Glauben geschenkt, welche die Zustandsverschlechterungen durch GET und CBT dokumentieren. [Bringsli et al., 2014; Kindlon, 2011; s.a. Twisk u. Maes, 2009]
   
Die Patienten in Deutschland haben nicht nach einem solchen Report verlangt. Viele von ihnen sind über die aktuelle Forschung sehr viel besser informiert als jeder durchschnittliche Arzt und – wie sich nun an diesem Elaborat zeigt – offensichtlich auch besser als die Wissenschaftler des RKIs. Sie hätten sich stattdessen staatlich geförderte biomedizinische Forschung gewünscht, z.B. Behandlungsstudien mit vielversprechenden Medikamenten. Oder eine Aufklärungskampagne seitens des BMG, um Ärzte, Gesundheitsämter und Rentenversicherer mit der organpathologischen Krankheit ME bekannt zu machen.

Auch die Behandler brauchen diesen Report nicht. Wer solche Therapieempfehlungen sucht, wird in der DEGAM-Leitlinie Müdigkeit fündig. Inhaltlich unterscheiden sich die beiden Machwerke nur unwesentlich voneinander, v.a. was die Schlussfolgerungen anbelangt.

Das Resultat der – gut gemeinten – Bemühungen der Initiativgruppe ME/CFS Rheinland-Pfalz ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Einbeziehung von Behörden und Institutionen gehörig nach hinten losgehen kann, wenn die Patienten bzw. ausgewählte, sachkundige Patientenvertreter nicht an dem Prozess beteiligt werden. Das sollte uns allen – und ich schließe mich da ganz selbstverständlich mit ein, denn auch ich war zu Beginn meines Engagements sehr naiv – eine Warnung sein. Bevor wir uns auf eine Zusammenarbeit einlassen, müssen wir immer genau hinschauen, ob wir außenstehenden Unterstützern auch voll und ganz vertrauen können und ob wir in alle Prozesse eingebunden werden. Transparenz sollte oberstes Gebot sein. Ansonsten lässt man besser die Finger davon. Denn kein Report ist besser als so einer!


*Man hatte sich mit dieser (Neu-)Definition und mit der verharmlosenden Namensgebung alle erdenkliche Mühe gegeben, um die seit Jahrzehnten dokumentierte infektiöse Krankheit ME in Vergessenheit geraten zu lassen. So unterließ man es beispielsweise, auf die früheren ME-Epidemien und die seit 1969 gültige WHO-Definition für ME Bezug zu nehmen. Doch die Mühe war insofern umsonst, als sich zwar Öffentlichkeit und Medien täuschen ließen, jedoch nicht die politisch aktiven ME-Patienten.

*CDC=Centers for Disease Control and Prevention, eine dem Gesundheitsministerium der Vereinigten Staaten unterstellte Behörde


Literatur, chronologisch:

RKI Erkenntnisstand zum „Chronic Fatigue Syndrome“ (CFS), 2015

Holmes, Gary P. et al. The 1988 Holmes Definition for CFS Chronic Fatigue Syndrome: A Working
Case Definition, Ann Intern Med. 1988

Holmes GP et al. A cluster of patients with a chronic mononucleosis-like syndrome. Is Epstein-Barr virus the cause? JAMA. 1987

Johnson, Hillary Osler's Web: Inside the Labyrinth of the Chronic Fatigue Syndrome Epidemic, Penguin Books 1997

Buchwald D, Cheney PR, Peterson DL et al. A chronic illness characterized by fatigue, neurologic and immunologicdisorders, and active human herpesvirus type 6 infection.,  Ann Intern Med. 1992

Ramsay, Melvin The Clinical Features of Myalgic Encephalomyelitis, 1986

Carruthers BM, van de Sande MI et al. MYALGIC ENCEPHALOMYELITIS – Adult & Paediatric: International Consensus Primer for Medical Practitioners, 2012

Evering RM, van Weering MG, Groothuis-Oudshoorn KC, Vollenbroek-Hutten MM. Daily physical activity of patients with the chronic fatigue syndrome: a systematic review.,  Clin Rehabil. 2011

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Twisk FNM, Maes M. A review on Cognitive Behavorial Therapy (CBT) and Graded Exercise Therapy (GET) in Myalgic Encephalomyelitis (ME)/Chronic Fatigue Syndrome (CFS): CBT/GET is not only
ineffective and not evidence-based, but also potentially harmful for many patients with ME/CFS.,
Neuro Endocrinol Lett. 2009

Light AR, White AT, Hughen RW, Light KC Moderate exercise increases expression for sensory, adrenergic, and immune genes in chronic fatigue syndrome patients but not in normal subjects., Journal of Pain. 2009

Snell CR et al., Postexertional malaise in women with chronic fatigue syndrome. Journal of
Women`s Health (Larchmt). 2010

White AT, Light AR, Hughen RW et al. Severity of symptom flare after moderate exercise is linked to cytokine activity in chronic fatigue syndrome., Psychophysiology 2010

Christopher R. Snell, Staci R. Stevens, Todd E. Davenport and J. Mark Van Ness Discriminative Validity of Metabolic and Workload Measurements to Identify Individuals With Chronic Fatigue Syndrome, Physical Therapy 2013

Betsy A Keller, John Luke Pryor and Ludovic Giloteaux Inability of myalgic encephalomyelitis / chronic fatigue syndrome patients to reproduce VO2peak indicates functional impairment, Journal of Translational Medicine 2014

Ruud CW Vermeulen and Ineke WG Vermeulen van Eck Decreased oxygen extraction during cardiopulmonary exercise test in patients with chronic fatigue syndrome, Journal
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Nicor Lengert, Barbara Drossel In silico analysis of exercise intolerance in myalgic encephalomyelitis/chronic fatigue syndrome, Biophysical Chemestry, March 2015

Sonya Marshall-Gradisnik et al. Analysis of the Relationship between Immune Dysfunction and Symptom Severity in Patients with Chronic Fatigue Syndrome/Myalgic Encephalomyelitis (CFS/ME),  J Clin Cell Immunol 2014

Watanabe, Y et al. Neuroinflammation in Patients with Chronic Fatigue Syndrome/Myalgic
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Zeineh, Michael M., Montoya, José G. et al. Right Arcuate Fasciculus Abnormality in Chronic
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Fluge, Oystein, Mella, Olav et al. Benefit from B-lymphocyte depletion using the anti-CD20
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A Bowling, M BondC Jenkinson and DL Lamping Short Form 36 (SF-36) Health Survey questionnaire: which normative data should be used? Comparisons between the norms provided by the Omnibus Survey in Britain, the Health Survey for England and the Oxford Healthy Life Survey, J Public Health 1999

Hornig, M, Montoya, JG, Klimas, N., Levine, S, Felsenstein, D, Bateman, L, Peterson, DL, Gottschalk, CG, Schultz, Andrew F, Che, X, Eddy, ML, Komaroff, AL, Lipkin, WI Distinct plasma immune signatures in ME/CFS are present early in the course of illness, Science Advances 2015


Fluge Ø et al. B-Lymphocyte Depletion in Myalgic Encephalopathy/ Chronic Fatigue Syndrome. An Open-Label Phase II Study with Rituximab Maintenance Treatment., PLoS One. 2015 Jul 1

Bringsli, Gunn J., Gilje, Anette and Getz Wold, Bjorn K. THE NORWEGIAN ME ASSOCIATION NATIONAL SURVEY Abridged ENGLISH VERSION, 2014

Kindlon, Tom Reporting of Harms Associated with Graded Exercise Therapy and Cognitive
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IACFS/ME. 2011

Twisk FNM, Maes M A review on Cognitive Behavorial Therapy (CBT) and Graded Exercise
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ME/CFS., Neuro Endocrinol Lett. 2009

Katharina Voss, Copyright 2016