Nachdem ich im ersten Blogeintrag erläutert habe, weshalb
ME-Aktivisten auf der Bezeichnung Myalgische Enzephalomyelitis oder kurz ME
bestehen, gehe ich heute der Frage nach, ob es sich bei ME und CFS auch
wirklich um die gleiche Erkrankung handelt.
Eine Krankheit, deren Ursache unbekannt ist und die keine
allgemein anerkannten Biomarker hat, mit denen die Krankheit zweifelsfrei
feststellbar wäre, benötigt eine scharf umrissene Krankheitsdefinition, damit
die Diagnose überhaupt gestellt werden kann. Es gibt mehrere ME-Krankheitsdefinitionen
(z.B. die von Melvin Ramsay, 1986, und die International Consensus Criteria von
Bruce M. Carruthers et al., 2011) und mehrere CFS-Krankheitsdefinitionen (z.B. die
von Gary Holmes et al., 1988, und Keiji Fukuda et al., 1994). Darüber hinaus
gibt es auch noch eine Krankheitsdefinition, die den Terminus ME/CFS benutzt,
nämlich die Kanadische Definition von 2003 (Bruce M. Carruthers et al.).
Sind diese Krankheitsdefinitionen für ME und CFS denn nun
in etwa gleich oder unterscheiden sie sich voneinander? Und wenn ja, inwiefern
unterscheiden sie sich? Und betreffen diese Unterschiede weniger wichtige
Aspekte der Krankheit oder betreffen sie entscheidende Aspekte?
Betrachten wir doch einfach mal die jeweilige Beschreibung des Kardinalsymptoms der Erkrankung, also die Definition desjenigen Symptoms, das für die jeweilige Krankheitsdefinition gänzlich unverzichtbar ist.
Betrachten wir doch einfach mal die jeweilige Beschreibung des Kardinalsymptoms der Erkrankung, also die Definition desjenigen Symptoms, das für die jeweilige Krankheitsdefinition gänzlich unverzichtbar ist.
Der Autor der allerersten Krankheitsdefinition überhaupt,
Melvin Ramsay, legte 1986 als Kardinalsymptom der ME die rasch einsetzende Muskelerschöpfbarkeit
fest, die schon nach minimaler körperlicher Anstrengung auftreten kann. Die
Muskulatur brauche nach einer solchen Belastung zwischen drei und fünf Tagen
oder auch länger zur Regeneration. Ohne dieses Symptom könne eine ME nicht
diagnostiziert werden, schrieb Ramsay damals.
In der ME-Definition von 2011, den
Internationalen Konsenskriterien (ICC), wird die PENE (post-exertional neuro immune
exhaustion), die neuroimmune
Entkräftung nach Belastung, als Kardinalsymptom der ME genannt. PENE
bezeichnet das pathologische Unvermögen, ausreichend Energie nach Bedarf zu produzieren.
Die Bezeichnung weist darauf hin, dass die maßgebenden Symptome nach nur
geringer körperlicher und/oder geistiger Anstrengung, z.B. nach Alltagsverrichtungen,
primär neuroimmunologischer Natur sind. In den ICC wird zwar nicht ausdrücklich
auf die pathologische Muskelerschöpfbarkeit hingewiesen, doch die Verknüpfung
von ausgeprägter und rascher körperlicher Erschöpfbarkeit nach geringer körperlicher
Aktivität verbunden mit einer verlängerten Regenerationszeit verweisen auf dasselbe
Krankheitsbild wie in der Definition von Melvin Ramsay beschrieben.
Kommen wir zu den beiden genannten CFS-Definitionen.
Das Hauptkriterium der Holmes-Definition von 1988 ist der neue Beginn einer
schubförmigen, schwächenden Fatigue (Müdigkeit oder Erschöpfung), welche die tägliche
Aktivität um mindestens 50% reduziert und die sich auch durch Bettruhe nicht
bessert. Doch die Fatigue wird in dieser Definition nicht als Folge von bereits
geringfügiger physischer Belastung dargestellt.
Auch bei der CFS-Definition von Fukuda ist
das Hauptkriterium die Fatigue und auch hier fehlt die zwingende Verknüpfung
von geringer körperlicher Belastung mit dem Auftreten von vermehrter Fatigue.
Spätestens seit der Fukuda-Definition klebt das Fatigue-Etikett jedoch unlösbar fest sowohl an den CFS- als auch an den
ME-Patienten, obwohl Fatigue in den ME-Krankheitsdefinitionen nicht als Symptom
der chronischen Phase der Erkrankung auftaucht und überhaupt auch gar kein zwingend
auftretendes Krankheitssymptom der ME ist. Müdigkeit kann bei
einigen ME-Patienten zeitweise, besonders in der akuten Phase zu
Beginn der Erkrankung ein Begleitsymptom sein, doch es leiden keineswegs alle
ME-Patienten unter Müdigkeit. Und ebenso wie Krebspatienten oder Multiple-Sklerose-Patienten
phasenweise unter Fatigue leiden können, können auch ME-Patienten
phasenweise darunter leiden, müssen es aber nicht.
Ein unbedingt erforderliches Symptom zur
Diagnosestellung der ME hingegen ist jedoch die PENE, die neuroimmune Entkräftung
nach Belastung. Im Gegensatz zur Fatigue ist die PENE auch kein rein
subjektives Gefühl, sondern sie geht mit objektiv messbaren biomedizinischen Anomalien einher.
PENE ist nachweisbar und kann bislang am besten mit einem zweitägigen
kardiopulmonalen Exercise-Test oder mit einem Genexpressionstest nach
einmaliger Belastung objektiviert werden.
Während Fatigue also ein medizinisch ungeklärtes
Phänomen darstellt, ist die PENE ein medizinisch erklärbares biologisches Alarmsignal
des Körpers, ausgelöst durch objektivierbare organische Krankheitsprozesse.
Offensichtlich sind ME und CFS also zwei
verschiedene Erkrankungen, denn das Kardinalsymptom der ME ist laut
Krankheitsdefinition eine pathologische Muskelerschöpfbarkeit mit der Folge
einer neuroimmunen Entkräftung nach bereits geringer Aktivität, wohingegen das
Kardinalsymptom von CFS laut Krankheitsdefinition Fatigue ist, also schlicht Müdigkeit
oder Erschöpfung, die nicht zwingend etwa eine Folge vorangegangener Aktivität sein
muss, sondern den Erkrankten anscheinend auch aus heiterem Himmel befallen kann.
Wenn sich Krankheitsdefinitionen aber schon
bei der Beschreibung des Kardinalsymptoms fundamental voneinander
unterscheiden, so können sie nicht ein und dieselbe Krankheit beschreiben –
auch wenn die Autoren der CFS-Definitionen stets den Eindruck erwecken wollten,
als existiere eine Krankheit namens ME nicht bzw. als handele es sich bei ME
und CFS um dasselbe Krankheitsbild.
Die Schaffung des Hybrids CFS/ME ist denn
auch auf die Bemühungen britischer Psychiater, der sogenannten Wessely School,
zurückzuführen, die neurologische Krankheit ME mit der chronischen Fatigue
Depressiver zu verschmelzen, um die ME-Kranken besser psychopathologisieren zu
können und die neurologische Krankheit ME auszuradieren und ihre Umklassifizierung
zu einer psychischen Erkrankung bei der WHO zu erwirken.
Die Wortschöpfung ME/CFS hingegen ist der hilflose
und unglückliche Versuch engagierter Ärzte, Forscher und mancher Patientenfürsprecher,
daran zu erinnern, dass die weltweit dominierende Bezeichnung CFS sich eigentlich
ursprünglich auf die Krankheit ME bezieht. Doch wissenschaftlich korrekt ist
diese Bezeichnung nicht, selbst wenn in den Kanadischen Konsenskriterien die
Begriffe Myalgische Enzephalomyelitis und Chronic Fatigue Syndrom synonym gebraucht
werden. Denn rein definitionsgemäß stellt ME, wie gezeigt, ein anderes
Krankheitsbild dar als CFS.
Leider haben sich aber die von der Politik
gewollten und favorisierten CFS-Krankheitsdefinitionen durchgesetzt. Deshalb diagnostizieren
die meisten Ärzte eine ME-Erkrankung auch als ein CFS. Doch nur etwa 30-50% der
CFS-Patienten erfüllen tatsächlich auch die Krankheitsdefinition einer ME.
(Frank Twisk, 2014)
Ob man nun mutmaßlich ein CFS-Patient oder
ein ME-Patient ist, hängt dabei u.a. ganz wesentlich davon ab, wie man auf
körperliche Anstrengung reagiert. Dabei genügt es nicht, sich müde und/oder
erschöpft zu fühlen, sondern für eine waschechte PENE, wie sie die ME-Diagnose
verlangt, braucht man einen Strauß neuroimmunologischer Symptome, die sich nach
Belastung verstärken oder auch wiederauftreten. Denn müde und erschöpft nach
körperlicher Belastung fühlen sich auch Depressive mit einer chronischen
Fatigue oder Menschen, die an anderen Krankheiten leiden, und
selbstverständlich auch Gesunde. Doch Symptome wie Halsschmerzen,
Lymphknotenschmerzen und –schwellungen, Muskelschmerzen, Muskelzuckungen und –krämpfe,
Schüttelfrost, eine überwältigende Erschöpfung, eventuell eine
Temperaturerhöhung, stark behindernde neurokognitive Beschwerden wie Ausfall
des Kurzzeitgedächtnisses, verlangsamtes Denken, eine verwaschene Sprache, Informationsverarbeitungsschwierigkeiten,
Desorientierung, Verwirrung, Wortfindungsschwierigkeiten, Licht-, Geräusch-, Lärm-,
Geruchs-, Geschmacks- und Berührungsempfindlichkeit sowie viele weitere Symptome
aus dem autonomen, urogenitalen und gastrointestinalen System stehen vor allem in
ihrer Kombination einzigartig für eine PENE und haben mit dem Zustand einer „normalen“
Erschöpfung oder Ermüdung oder gar mit Antriebslosigkeit oder
Motivationsschwierigkeiten nicht das Geringste gemeinsam.
Obwohl die Namen ME und CFS also zwei
unterschiedliche Krankheitsbilder bezeichnen, stellt sich für viele sicherlich dennoch die Frage,
ob es zwecks besserer Verständigung mit medizinischem Personal nicht vielleicht doch sinnvoll
sein könnte, von CFS/ME oder ME/CFS oder auch gleich von einem „Chronischen
Erschöpfungssyndrom“ oder sogar von einem „Chronischen Müdigkeitssyndrom“ zu
sprechen. Vielleicht kann mein nächster Blogeintrag, in dem ich ein bisschen
aus dem Nähkästchen plaudern werde, zur Beantwortung dieser Frage beitragen ...
Mehr zum Thema und den Hintergründen hier.
Bildnachweise:
Hans Holbein d. J., Porträt von Nikolaus Kratzer, www.commons.wikimedia.org
Ernst Ludwig Kirchner, Frau in grüner Bluse, www.commons.wikimedia.org
August Egg, The Travelling Companions, www.commons.wikimedia.org
Max Pechstein, Wegkreuzung im Wald, www.badv.bund.de
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Hans Holbein d. J., Porträt von Nikolaus Kratzer, www.commons.wikimedia.org
Ernst Ludwig Kirchner, Frau in grüner Bluse, www.commons.wikimedia.org
August Egg, The Travelling Companions, www.commons.wikimedia.org
Max Pechstein, Wegkreuzung im Wald, www.badv.bund.de
Katharina Voss, Copyright 2015