… ließ
der an Myalgischer Enzephalomyelitis erkrankte amerikanische Filmregisseur Blake Edwards seinen
Protagonisten Jack Lemmon in dem Film „That`s Life“ sagen. Stress zu haben, ist
also normal und gehört zum Leben dazu. Die Menschen waren immer und zu allen
Zeiten Stress ausgesetzt, wenn auch die Art der Belastungen sich geändert hat.
Doch Stress für alle möglichen Krankheiten verantwortlich zu machen, das entspricht
ganz unserem Zeitgeist.
Immer
wieder halten auch ME-Patienten irrtümlich Stress für die Ursache ihrer Krankheit. Desgleichen Ärzte und Psychiater:
Auch sie machen gern eine erhöhte Stressbelastung für die Erkrankung ursächlich
verantwortlich – oftmals ohne zu explorieren, ob der Patient tatsächlich außergewöhnlichem
Stress ausgesetzt war oder nicht. Verunsicherte Patienten sind leicht geneigt,
sich dieser Auffassung anzuschließen, weil sie der Krankheit eine Ursache zu
geben und einen „Sinn“ zu verleihen scheint und suggeriert, man müsse nur
seinen Stress reduzieren, um wieder gesund zu werden. Doch das ist bei ME leider
keine therapeutische Option, die zu Heilung führen würde.
Deshalb
muss bei der Anamneseerhebung sorgfältig abgeklärt werden, ob der Patient vor
Krankheitsbeginn tatsächlich nicht zu verkraftenden Stressoren ausgesetzt war,
die für ein Burnout ursächlich verantwortlich zu machen sind, oder ob er
zuvor ausreichend leistungsfähig war, um ein aktives Leben wie viele andere
gesunde Menschen auch zu führen, deren Aktivitäten nicht zu einer Krankheit
führen.
Ein
hohes Aktivitätslevel ist nicht mit einer übermäßigen Stressbelastung zu
verwechseln. Viele ME-Patienten sind bereits vor dem endgültigen Ausbruch der
Krankheit gesundheitlich angeschlagen (z.B. durch Symptome, die bei einer
milden Form von ME auftreten wie rezidivierende Infekte, Halsschmerzen oder
auch ein allgemeines Schwächegefühl) und empfinden deshalb ihre normalen Aktivitäten
zunehmend als Stressbelastung. Etlichen ME-Patienten erscheint ihr Leben vor Beginn
der Erkrankung aber auch erst im Nachhinein als stressbelastet, da sie sich
solche Aktivitäten krankheitsbedingt nicht mehr vorstellen können und sich nur
bei dem bloßen Gedanken daran schon gestresst und überfordert fühlen.
Für eine
differentialdiagnostische Abgrenzung zum Burnout, der durch extremen Stress
verursacht wird, liefert die Reaktion des Patienten sowohl auf Ruhe als auch
auf körperliche Belastung wichtige Hinweise. Im Gegensatz zum Burnout bessern
sich die Symptome eines ME-Patienten durch Ruhe und die üblichen Rehabilitationsmaßnahmen
wie Psychotherapie und sportliche Aktivitäten, die bei Burnout rehabilitierend wirken, nicht.
Ist
eine übermäßige Stressbelastung also tatsächlich als Ursache der Erkrankung
auszumachen, handelt es sich demzufolge nicht um ME oder „CFS“, sondern um ein
Burnout. Die Frage, ob extremer Stress allerdings ein Auslöser für ME oder
„CFS“ sein kann, wird von verschiedenen Krankheitsdefinitionen unterschiedlich
beantwortet. Zwei Krankheitsdefinitionen, nämlich die Fukuda- und die IOM-Definition,
erklären eine dem Krankheitsausbruch vorangehende andauernde oder exzessive
Stressbelastung ausdrücklich zu einem Ausschlusskriterium. [1,2] In den Kanadischen Konsenskriterien (CCC) wird Stress als Krankheitsauslöser
erst gar nicht erwähnt und die Internationalen
Konsenskriterien (ICC) führen
überhaupt keine Krankheitsauslöser an. [3,4] Lediglich im International Consensus Primer for Medical Practitioners wird
übermäßiger Stress als ein mögliches der Krankheit vorausgehendes Ereignis
aufgelistet, bildet jedoch das Schlusslicht in der Reihe prädisponierender
Faktoren. [5]
Besonderer
Beliebtheit erfreut es sich bei Anhängern psychogener Verursachungstheorien
auch, das übertriebene Streben nach Perfektion mit ME und “CFS“ in
Verbindung zu bringen. So ist oftmals von „überzogenem Leistungsdenken“,
„chronischer Überforderung“ oder von einer „perfektionistischen Persönlichkeitsstruktur“
die Rede, selbst dann, wenn der Erkrankte sich nur wünscht, wieder an seinem
erfüllten und ausgefüllten Vorleben anknüpfen zu können, dem er sich als
Gesunder erfreuen durfte. Dieser Charakterisierungen bedienen sich manche
Behandler sogar, wenn der Patient seine Ansprüche an ein normales Leben bereits
weitgehend zurückgeschraubt hat und sich nichts weiter wünscht, als spazierengehen,
sich wieder einmal duschen oder die Haare waschen zu können, ohne dass sich er
sich davon erholen muss.
Manche
Patienten fühlen sich durch solche Charakterzuschreibungen gut getroffen und
lassen sich küchenpsychologische Deutungen von ihren Behandlern bereitwillig aufschwätzen,
weil sie sich von solchen zweifelhaften Erkenntnissen und Einsichten gesundheitliche
Besserung versprechen. Persönlichkeitsmerkmale als Krankheitsursache
auszugeben, suggeriert nämlich, Heilung könne allein durch die Aufgabe dieser
Eigenschaften erwirkt werden. Einige Patienten greifen die Hypothese vom
angeblich krankmachenden Hang zum Perfektionismus auch deshalb so dankbar auf,
weil es sich um die Zuschreibung einer sozial hoch im Kurs stehenden Eigenschaft
handelt. Es ist nicht verwunderlich, dass jemand, der sich aufgrund seiner
Krankheit als defizitär und als nicht vollwertiges Mitglied der Gesellschaft
erlebt, sich eine Verursachungstheorie zu eigen macht, die ihm erlaubt, sich als
im Grunde ganz besonders tüchtig und engagiert darzustellen. Denn im Gegensatz
zu anderen Verursachungstheorien, die soweit gehen, die Existenz der Krankheit
komplett zu verleugnen und die Patienten als Simulanten zu verhöhnen, legt
diese Theorie dem Patienten nahe, er sei nicht etwa krank geworden, weil er ein
Taugenichts und Faulpelz, sondern im Gegenteil ein besonders nützliches
Mitglied der Gesellschaft gewesen sei. Das vermag immerhin das angeschlagene
Selbstwertgefühl des Patienten zu reparieren.
Die
„Perfektionismustheorie“ verleitet einige Patienten sogar dazu sich einzubilden,
sie seien vom Schicksal auserwählt oder ausgezeichnet. Sich auf diese Weise
geadelt zu fühlen, hilft manchem dabei, die Bürde der Krankheit besser zu
ertragen. Wenn sich der Zustand des Patienten allerdings verschlechtert, das
Leben des Patienten durch die Krankheit sukzessive zerstört wird und der Kranke
merkt, dass der Verzicht auf Perfektionismus keineswegs zu einer Verbesserung
seines Zustands geführt hat, nimmt er meist Abstand von dieser
Verursachungshypothese, weil er sich um das Heilsversprechen betrogen fühlt.
Bedauerlicherweise
befürworten auch nicht eben wenige Behandler die Verursachungshypothese vom „überzogenem
Leistungsdenken“, „chronischer Überforderung“ oder von einer
„perfektionistischen Persönlichkeitsstruktur“. Das ist u.a. auch dem Umstand zu
verdanken, dass viele ME-Patienten ihr prämorbides Aktivitätsniveau bei einer
Erstvorstellung oftmals maßlos übertreiben, nur um nicht für Simulanten oder
Drückeberger gehalten zu werden. Dafür, dass die Krankheit ein so denkbar
schlechtes Image hat, das insbesondere mit Simulantentum verknüpft ist, haben
vor allem die britischen Psychiater der sogenannten Wessely School mit ihren verächtlichen Äußerungen über „CFS“- und
ME-Kranke gesorgt. Um nun diesem Vorwurf, mit dem der Patient oftmals bereits nicht
lange nach Krankheitsausbruch konfrontiert wird, zuvorzukommen, stellt er sein
Vorleben gerne als hyperaktiv dar. So verwundert es nicht, dass manche Ärzte solch
einen Patienten als übermäßig leistungsorientiert und perfektionistisch veranlagt
beurteilen. Doch die Eventualität narrativer Verzerrungen die Vorgeschichte des
Patienten betreffend, sollte vom Arzt bei der Anamneseerhebung immer
mitberücksichtigt und allzu blumige Ausschmückungen des prämorbiden Arbeits-
und Aktivitätspensums hinterfragt werden.
Aber
auch wenn es manchen Ärzten und Patienten, die ihrem Schicksalsschlag einen
Sinn verleihen möchten, dennoch so vorkommen mag: Perfektionismus oder
ausgeprägter Ehrgeiz sind keine konstituierenden Faktoren einer ME. Die
Verknüpfung einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur mit der Entstehung einer
ME ist wissenschaftlich nicht belastbar, wie zahlreiche Studien belegen. [6] Selbst
Psychiater Simon Wessely, Kopf der Wessely School, kam bei
einer Studie, welche die Persönlichkeitsstruktur von „CFS“-Kranken untersuchte,
zu dem Ergebnis, dass das „Stereotyp von CFS-Patienten als Perfektionisten“
(Ü.d.A.) nicht haltbar sei. [7]
Nicht
selten muss auch eine posttraumatische Belastung als
Ursache für die Erkrankung herhalten, sogar manchmal, ohne dass der Patient von
einem Trauma außergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmaßes wie etwa schwerer
körperlicher Gewalt, Missbrauch, Vergewaltigung, Folter oder Kriegserlebnissen
berichten kann.
Doch eine posttraumatische Belastungsstörung geht hauptsächlich mit einer
krankhaften Veränderung des Seelenlebens einher, wohingegen ME-Patienten ganz
überwiegend körperliche Symptome beklagen.
Einige Psychologen und Mediziner – allen
voran der an der Universität Marburg
lehrende und forschende Psychologieprofessor Urs Nater und Christine Heim,
Direktorin des Instituts für Medizinische
Psychologie der Charité Berlin – arbeiten seit Jahren daran, sexuellen und
emotionalen Missbrauch sowie emotionale Vernachlässigung als Ursache für eine
„CFS“-Erkrankung zu etablieren. Mit ihrer Studie aus dem Jahre 2009, Childhood Trauma and Risk for Chronic Fatigue
Syndrom – Association with neuroendocrine dysfunction betitelt, wollen sie bei
Probanden, die berichteten, einem Kindheitstrauma ausgesetzt gewesen zu sein,
ein 6-fach erhöhtes Risiko „CFS“ zu bekommen, ausgemacht haben. [8]
Doch
wenn man die Auswahlkriterien für die Probanden dieser Studie betrachtet, wird
man feststellen, dass die Autoren Teilnehmer der berüchtigten Telefonbuchkohorte aus Georgia rekrutiert und die sehr
weitgefasste empirische
Krankheitsdefinition der CDC
benutzt haben, eine extrem verwässerte Version der Fukuda-Definiton, die es möglich macht, einen arbeitsunwilligen,
sozial inkompetenten und kontaktarmen Marathonläufer, der morgens schlecht aus
dem Bett kommt, als „CFS“-Kranken zu diagnostizieren. [9] Das heißt, die
Wahrscheinlichkeit, dass sich unter den Studienteilnehmern tatsächlich „CFS“-
oder gar ME-Patienten befanden, ist nicht besonders groß.
Außerdem
wertete die Studie nur selbstberichtete Kindheitserfahrungen aus. Probanden,
die wie hier in Fragebögen „über signifikant höhere Raten an Kindheitstraumen
und psychopathologischen Symptomen als Kontrollgruppen“ (Ü.d.A.) berichten, [10]
geben allenfalls ihre Meinung kund, nicht aber eine psychiatrische Diagnose.
Denn es ist nicht möglich, sich selbst eine psychiatrische Diagnose zu stellen.
Diese Probanden glaubten lediglich, Kindheitstraumen erlitten zu haben und an
psychopathologischen Symptomen zu leiden. Doch da niemand eine gültige
psychiatrische Selbstdiagnose stellen kann, handelt es sich hierbei nicht um
eine gesicherte psychiatrische Diagnose, sondern nur um eine reine Meinungsäußerung
der Probanden.
Das,
was Nater et al. eigentlich
untersuchen wollten, nämlich ob Kindheitstraumen tatsächlich ursächlich mit der
Entwicklung eines „CFS“ in Verbindung zu bringen sind, haben sie also in
Wirklichkeit gar nicht untersucht. Stattdessen haben sie eine Meinungsumfrage
unter gesunden Kontrollen und (fraglichen) „CFS“-Patienten gemacht, von denen sich
viele durch die Fragen des Fragebogens eingeladen oder aufgefordert fühlten,
über Schreckliches aus ihrer Kindheit mit weitreichenden psychischen Folgen bis
in die Gegenwart zu berichten. Ungeklärt bleibt dabei, ob sie diese Dinge
wirklich erlebt haben und nachhaltig traumatisiert wurden, oder ob sich
Ereignisse in der Rückschau mit Bedeutung aufgeladen haben, die in der Kindheit
nicht traumatisierend waren und nun dem Patienten als sinnstiftende Erklärung
für den schicksalhaften Ausbruch der Erkrankung dienen. Womöglich waren die
Probanden sogar nur bemüht, die nicht zu übersehende Erwartungshaltung der
Studiendesigner, die sich bereits aus deren Fragestellungen ergibt, zu
erfüllen. Und viele von ihnen werden ihren artig ausgefüllten Fragebogen auch
mit der mehr oder weniger unbewussten Erwartungshaltung abgegeben haben, Hilfe
und eine Heilbehandlung für ihre körperlichen Probleme zu bekommen. (Mehr zu
den Schwächen des Designs dieser Studie in meinem Buch.)
Bereits
2001 hatten der amerikanische Ergotherapeut Renée
Taylor und der amerikanische Psychiater Leonard
Jason zum Thema Kindheitstrauma und „CFS“ geforscht. Sie fanden heraus,
dass die Prävalenzraten von sexuellem Missbrauch und Misshandlung bei Menschen
mit „CFS“ vergleichbar sind mit denen, die man bei Individuen mit anderen
Krankheiten findet: „Im Vergleich zu denen mit CFS, die über solche
frühkindlichen Erfahrungen berichten, berichten die meisten Menschen mit CFS
nicht über einen solchen Missbrauch.“ (Ü.d.A.) [11]
Der
Prozentsatz „CFS“-Kranker, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht oder
misshandelt wurde, ist dieser Studie zufolge also nicht größer als der z.B.
Krebs- oder Herzkranker, und die meisten „CFS“-Kranken sind nicht sexuell
missbraucht oder misshandelt worden. Taylors
und Jasons Ergebnisse werden auch von
anderen Studien gestützt. Der britische Professor für Jugendgesundheit Russel Viner und der britische
Psychiater Matthew Hotopf
beispielsweise konnten ebenfalls keinen Zusammenhang zwischen psychischen Belastungen,
welcher Art auch immer, von Mutter oder Kind und einem erhöhten Risiko, “CFS/ME“
zu entwickeln, identifizieren – und Hotopf
ist immerhin sogar ein Vertreter der britischen Wessely School! [12]
Ohnehin
ist es methodisch fragwürdig, mit Hilfe von Fragebögen retrospektiv gewonnene Einsichten
auszuwerten. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Selbstberichtetes stets einer narrativen
Verzerrung unterliegt. Kranke versuchen – wie alle anderen Menschen
auch – einen Sinn in dem zu finden, was ihnen schicksalhaft zugestoßen ist, und
so werden in der Rückschau Ereignisse möglicherweise als belastend und traumatisierend
bewertet, die in der Vergangenheit keinerlei traumatisches Potenzial für den
später erkrankten Patienten besaßen.
Aufschlussreich
ist hierzu eine prospektive Studie mit 676 dokumentierten Fällen von
Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit und einer
Vergleichsguppe von 520 demographisch übereinstimmenden Kontrollen. [13] Untersucht
wurde, ob ein Zusammenhang zwischen Viktimisierung in der frühen Kindheit und
der Entwicklung einer Schmerzsymptomatik im Erwachsenenalter existiere. Es gab
keinen Zusammenhang; jedoch war eine Schmerzsymptomatik signifikant assoziiert
mit retrospektiv
selbstberichtetem
Missbrauch und retrospektiv selbstberichteter Misshandlung oder
Vernachlässigung. Deshalb schlussfolgerten die Autoren, dass die allgemeine
Annahme, medizinisch unerklärliche Schmerzen seien psychischen Ursprungs, in
Frage zu stellen sei.
Eine
weitere prospektive Studie zur Frage, ob Glück, Zufriedenheit, Wohlbefinden und
ähnliche Empfindungen das Sterblichkeitsrisiko senken, kam zu dem Ergebnis, das
dem nicht so ist. [14] Eine schlechte Gesundheit mache zwar traurig, unzufrieden
und unglücklich, aber umgekehrt seien Traurigkeit, Unzufriedenheit oder das
Gefühl unglücklich zu sein mit keinem erhöhten Krankheits- oder
Mortalitätsrisiko verbunden. Diese Studie sollte, so kann man nur hoffen,
diejenigen Patienten emotional entlasten, die glauben, selbst Schuld an ihrer
Krankheit zu sein, weil sie ihre prämorbiden Gefühle von Unglücklichsein oder
Unzufriedenheit fälschlicherweise ursächlich verantwortlich für ihre
körperliche Erkrankung machen.
Die
geradezu irrwitzige Überbewertung psychologischer Erklärungsmodelle, seien sie
auch noch so laienhaft, ist ein offenbar schwer ausrottbares, grassierendes
Übel unserer Zeit, das nicht nur Krankheitsverursachungstheorien betrifft,
sondern mittlerweile auch weite Teile des Alltagslebens beherrscht. Man kann
sich oftmals nicht des Eindrucks erwehren, dass es sich hierbei um eine Art
Ersatzreligion zu handeln scheint.
Doch
nehmen wir als Beispiel emotionalen Stress: Was ist das eigentlich und
ab welchem Zeitpunkt entsteht emotionaler Stress? Man wird die Feststellung
machen, dass selbst Gesunde unter emotionalem Stress etwas völlig Verschiedenes
verstehen. Was der eine bereits als emotionalen Stress empfindet, ist für den
anderen gerade mal erst die Warmlaufphase. Dann gibt es auch diejenigen, die
völlig stressresistent sind, deren Gefühlshaushalt und Arbeits- und Aktivitätspensum
keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen. Wieder andere verspüren zwar kein Stressgefühl
und können großen Belastungen, auch emotionalen, offenbar mühelos standhalten,
doch sie arbeiten, bis sie buchstäblich umfallen und mit einem Herzinfarkt in
die Klinik eingeliefert werden.
Doch
wird ein Herzinfarkt auch tatsächlich durch emotionalen Stress verursacht?
Die Frage lässt sich wohl mit einem klaren Nein beantworten. Ein Herzinfarkt
kann jedoch durch großen emotionalen Stress wie Ärger oder Freude ausgelöst
werden, so Professor Stephan Baldus,
Direktor des Herzzentrums der Universitätsklinik
Köln, doch in aller Regel nur dann, wenn bereits eine Vorerkrankung wie
beispielsweise eine Arteriosklerose der Herzkranzgefäße vorliegt. [15] Risikofaktoren
für eine Arteriosklerose sind Bewegungsmangel, der zu hohem Blutdruck führen
kann, welcher dann die Gefäßinnenwände schädigt, fett- und kalorienreiches
Essen, das zu Übergewicht und hohen LDL-Cholesterinwerten führt, Tabakkonsum,
der Ablagerungen in den Arterien fördern kann, sowie verschiedene Krankheiten
wie z.B. Diabetes mellitus, Schilddrüsenüberfunktion, Rheumatoide Arthritis,
genetische Veranlagung usw. [16] Doch diese Faktoren treffen auf Menschen, die
nicht stressgeplagt sind, mindestens ebenso häufig zu. Es ist also nicht der
Stress, der die Menschen krank macht, sondern schlechte Lebensgewohnheiten, die
pathogene Körperprozesse bewirken, und/oder eine Kumulation von Krankheiten.
Ähnlich wie Professor Baldus die Frage beantwortet, ob emotionaler Stress einen
Herzinfarkt auslösen kann, lässt sich womöglich auch die Frage beantworten, ob Stress,
gleich welcher Art, ein Auslöser für ME sein könnte. Epidemische und Cluster-Ausbrüche weisen darauf hin, dass ME eine infektiöse Krankheit ist.
Aufgrund der wachsenden Zahl von Hinweisen schlägt der International Consensus Primer for Medical Practitioners neuropathische
Viren als mögliche primäre Ursache der Erkrankung vor. [5] Nach dieser
Hypothese infizieren neuropathische Viren neurologische und Immunzellen und schädigen
die Kapillaren und Mikroarterien im Zentralen Nervensystem. Diese initiale Infektion entfacht in der
Folge eine tiefgreifende Fehlregulation der Immunantwort, die chronisch wird
oder Autoimmunität bewirkt, sogar wenn der Level des infektiösen Agens
vermindert ist.
Das ist eine plausible ätiologische Hypothese,
derzufolge die neuropathischen Viren auch ganz allmählich diffuse
Hirnschädigungen verursachen können. Der Infizierte nimmt unter solchen
Umständen die Infektion möglicherweise nur als eine Art Hintergrundrauschen wahr
und fühlt sich noch eine ganze Weile lang gesund und arbeitsfähig. Doch da die
Leistungsfähigkeit des Infizierten langsam, aber stetig abnimmt, auf der
anderen Seite der Berg unbewältigter Aufgaben jedoch anwächst, gerät der
Infizierte zunehmend unter Stress. Mit jedem weiteren Tag, an dem die
neuropathischen Viren ihr zerstörerisches Werk anrichten, sinkt die Stresstoleranzgrenze des Infizierten – bis zu
dem Zeitpunkt, wo das System vor den Viren kapituliert und die Krankheit voll
ausbricht.
Da bei dieser schleichenden Verlaufsform der
Infizierte die initiale Infektion nicht bemerkt hat, glaubt er nun irrtümlich,
der Stress
habe seine Krankheit verursacht. Dabei ist in so einem
Fall sogar fraglich, ob seine Krankheit auch nur durch Stress ausgelöst
wurde. Im Grunde genommen ist hier der ansteigende Berg unerledigter Aufgaben
und die begleitende Zunahme an Stressempfinden bereits eine Folgeerscheinung
des schwelenden Krankheitsprozesses. Denn es ist doch nicht der zunehmende Stress,
mit dem der Infizierte nicht mehr fertig wird, sondern es sind die sich
mehrenden Schäden des Zentralen Nervensystems, die voranschreitende Immunfehlregulation
sowie die sich ausweitenden Autoimmunprozesse, die, wenn sie überhand nehmen,
zum vollen Ausbruch der Krankheit führen.
Weder Stress noch chronische Überforderung oder
das übertriebene Streben nach Perfektion noch eine posttraumatische
Belastungsstörung können eine ME verursachen oder auslösen: Es gehört immer – wie die gut dokumentierten epidemischen und die Cluster-Ausbrüche zeigen – eine Infektion dazu, und zwar mit einem bislang nicht identifizierten Virus
oder Retrovirus. Denn in Kriegs- und Nachkriegszeiten waren Millionen Menschen
maximalem Stress oder chronischer Überforderung ausgesetzt und ganz besonders
viele Menschen litten kriegsbedingt an einer posttraumatischen
Belastungsstörung – ohne jedoch auffallend häufig an ME zu erkranken. Wenn die Krankheitstheorien
von der posttraumatischen Belastung, chronischen Überforderung oder der erhöhten
Stressbelastung als Ursache von ME also zuträfen, dann hätte nach dem Zweiten
Weltkrieg ein signifikant hoher Anteil der europäischen Bevölkerung an ME
erkrankt sein und, anstatt sich tatkräftig am Wiederaufbau zu beteiligen, flachliegen
müssen. Doch das war sichtlich nicht der Fall. Die Krankheit war seinerzeit
nicht annähernd so verbreitet wie heute.
Manchen
ME-Patienten ist die Beantwortung der Frage, ob Stress, chronische
Überforderung, eine posttraumatische Belastungsstörung oder aber ein Virus ihre
Krankheit verursacht hat, völlig wurscht. Sie wünschen sich nur sehnlichst eine
Heilbehandlung herbei. Doch die wird es nur dann geben, wenn
Entscheidungsträger davon überzeugt werden bzw. nicht mehr abstreiten können,
dass ME nicht durch psychische Faktoren, sondern durch ein (oder verschiedene) Pathogen(e)
verursacht wird. Deshalb ist es unbedingt notwendig, zwischen Krankheitsursachen
und Krankheitsauslösern
und Folgeerscheinungen zu unterscheiden und sich eine
differenzierte Betrachtungsweise der eigenen Krankheitsgenese zu erarbeiten.
Denn Patienten, die entweder gedankenlos die durch keine seriöse Wissenschaft bewiesenen psychogenen Verursachungstheorien rezipieren oder sogar hartnäckig
an ihnen festhalten, tragen (unwissentlich) zur Verhinderung der dringend
benötigten biomedizinischen Erforschung der Krankheit und der Entwicklung eines
entsprechenden Heilmittels bei.
Wenn
die Patienten sich nicht denen, die ihre Krankheit psychopathologisieren,
bagatellisieren, verleugnen oder sogar verhöhnen, selbst ans Messer liefern
wollen, sollten sie all diese psychologischen Erklärungsmodelle ganz schnell über
Bord werfen. Denn sonst werden werden sie noch viele weitere Jahrzehnte mit
ineffektiven Ratschlägen wie ihren Stress zu reduzieren, mal Fünfe gerade sein
zu lassen oder eine Psychotherapie zu machen bombardiert werden – und das wird sie
viele Lebensjahre kosten, die Schwerkranken unter Umständen sogar das Leben.
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9 William
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11
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12 Viner, Russell; Hotopf, Matthew Childhood predictors of self reported
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13 Raphael KG, Widom CS, Lange G Childhood victimization and pain in adulthood:
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14 Bette Liu et al. Does happiness itself directly
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15 Tanja Pöpperl Kann Ärger einen Herzinfarkt auslösen?,
Apotheken-Umschau 11.11.2015 http://www.apotheken-umschau.de/Herzinfarkt/Kann-Aerger-einen-Herzinfarkt-ausloesen-278879.html
(Abruf 5.01.16)
16 Andrea
Bannert Arteriosklerose, NetDoktor
o.J., http://www.netdoktor.de/krankheiten/arteriosklerose/#TOC2
(Abruf 5.01.16)
Bildnachweise:
Ernst Ludwig Kirchner, Straßenbild vor dem Friseurladen, www.commons.wikimedia.org
Ernst Ludwig Kirchner, Das Bad des Kranken, Galerie Henze & Ketterer & Triebold © Wichtrach/Bern
Francisco de Goya, Saturn verzehrt eines seiner Kinder, www.commons.wikimedia.org
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Pieter Bruegel d. Ä., Schlaraffenland, www.commons.wikimedia.org
Edvard Munch, Abend auf der Karl Johans gate, www.commons.wikimedia.org
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