Samstag, 19. Dezember 2015

Frohes Fest!


Im Vorweihnachtstrubel steht das ganze Land Kopf. Die Leute sind im Einkaufsrausch, um Wunschlisten abzuarbeiten, im Dekofieber, um ihr Heim festlich herauszuputzen, im Terminstress, um Weihnachtsfeiern von Kindergarten, Schule, Firma und Verein zu absolvieren, und im Back- und Kochwahn, um in einer Aufwallung christlicher Nächstenliebe auch noch die mäklige Verwandtschaft über die Feiertage zufriedenstellend verköstigen zu können. Hektische Betriebsamkeit paart sich mit der Vorfreude auf ein paar nette, friedliche Tage mit der Familie. Die Menschen scheinen sich in der Vorweihnachtszeit für kurze Zeit im Ausnahmezustand zu befinden, selbst die, die sich bewusst dem Konsumterror und allen gesellschaftlichen Zwängen verweigern. Wenn dann am Nachmittag des 24. urplötzlich eine geradezu geisterhafte Stille eintritt, die Straßen leergefegt sind, weil die Familien sich um ihren im Lichterglanz erstrahlenden Tannenbaum versammeln, und die Bescherung beginnt, löst der eine Ausnahmezustand den anderen ab. Doch Letzterer ist nur von sehr kurzer Dauer.

Bei ME-Kranken herrscht eigentlich das ganze Jahr über Ausnahmezustand, nicht nur zur Weihnachtszeit. Und es ist ein Ausnahmezustand ganz unfreiwilliger Art: Denn man lässt sie nicht zur Ruhe kommen – egal wie krank sie sind. Fortwährend müssen sie um eine adäquate medizinische und finanzielle Versorgung und um soziale Anerkennung kämpfen. Andauernd müssen sie um wenigstens ein Minimum an familiärem Halt und emotionaler Unterstützung buhlen. Pausenlos müssen sie darum bangen, überhaupt als Schwerkranke wahr- und ernstgenommen zu werden. Unentwegt begleitet sie die Sorge, dass sich ihre gesundheitliche Situation noch weiter verschlechtern könnte. Immerzu leben sie in der Furcht, wegen Begleiterkrankungen oder Komplikationen ins Krankenhaus eingewiesen zu werden, wo man ihre Grunderkrankung nicht kennt und wo auch keine Rücksicht auf ihre spezielle Symptomatik genommen wird. Permanent belastet sie die Vorstellung, ins Pflegeheim abgeschoben zu werden, weil sie niemanden haben, der sie angemessen versorgen könnte. Ohne Unterlass müssen sie befürchten, von uninformierten Ärzten, Pflegern, Bekannten, Freunden und Verwandten psychopathologisiert und womöglich in die Psychiatrie zwangseingewiesen zu werden, wie es schon unzähligen Mitpatienten widerfahren ist.

Zusätzlich zu diesen Dauerkriegsschauplätzen trägt ganz wesentlich die neurologische Symptomatik der ME-Kranken zur Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands bei. Denn ihre sensorischen Überempfindlichkeiten verhindern, dass sie wie andere Behinderte und chronisch Kranke am Leben partizipieren können. Sinnesempfindungen wie visuelle, auditive, taktile, olfaktorische und gustatorische Wahrnehmungen können den ME-Patienten derart überwältigen, dass er gezwungen ist, sich häufig zurückzuziehen oder sogar in völliger Isolation zu leben. Auch das anhaltende Krankheitsgefühl, das von der grippeähnlichen Symptomatik, den Schmerzen und der überwältigenden Erschöpfung herrührt, sowie die pathologische Muskelerschöpfbarkeit und die Zustandsverschlechterung nach oftmals nur geringfügiger Belastung verhindern seine Teilhabe am Leben.




Die meisten chronischen Krankheiten beeinträchtigen das Leben mehr oder weniger stark, aber einige sind nur sehr schwer erträglich und gehören, wenn sie ein bestimmtes Stadium erreicht haben, zu den entsetzlichsten Krankheiten, die man sich als Gesunder überhaupt nur ausmalen kann. Myalgische Enzephalomyelitis zählt ohne Zweifel dazu.


Wenn ich Gesunden oder auch Kranken vom Leben meiner beiden Töchter berichte oder von dem, was davon übrig geblieben ist, können die meisten kaum begreifen, dass sie überhaupt noch einen Lebenswillen besitzen. „Wie halten sie das nur aus? Wie kann man so etwas aushalten? Ich könnte das nicht aushalten“, bekomme ich immer wieder zu hören.

Ja, wie kann man so etwas aushalten? Eine Krankheit, die eine 22-Jährige und eine 15-Jährige nötigt, Tag und Nacht meist in völliger Dunkelheit vor sich hinzuvegetieren? Eine Krankheit, die sie zwingt, weitgehend ohne Gesellschaft, ohne Gespräche (das Notwendigste kommunizieren sie meist über Handzeichen), ohne Umarmungen (wegen der Berührungsempfindlichkeit), ohne Trostworte und sogar ganz ohne jegliche Beschäftigung und Ablenkung auskommen zu müssen? Einen Zustand, der nur durch die Aufnahme von Mahlzeiten, die Verrichtung der Notdurft und durch Hygienemaßnahmen unterbrochen wird?

Ich weiß nicht, wie man das aushalten kann.

„Und wie halten Sie das eigentlich aus?“, werde ich dann als nächstes gefragt. Die Frage kann ich kaum beantworten. Ich murmele dann für gewöhnlich etwas davon, dass mir ja gar nichts anderes übrigbliebe als es auszuhalten. Was mich aber am meisten quält, ist der Umstand, dass mir kaum Möglichkeiten verblieben sind, Trost zu spenden. Ich sehne mich danach, meine Töchter in den Arm nehmen zu können und sie zu trösten. Ich sehne mich danach, mich mit ihnen zu unterhalten und von ihnen zu erfahren, was in ihnen in diesen dauerhaft dunklen Stunden vorgeht. Ich ersehne den Tag herbei, an dem die beiden wieder einmal die Kraft haben werden, sich „besuchen“ und miteinander reden zu können. Das war im letzten halben Jahr leider nur einmal und nicht ohne weitere gesundheitliche Einbußen möglich – obwohl sie doch Wand an Wand liegen.


Aber vor allem sehne ich mich danach, ihre Hoffnung auf eine wirksame Behandlung mit neuen, überzeugenden Forschungsergebnissen bestätigen zu können. Nicht, dass ich das nicht andauernd täte. Was bleibt mir auch anderes übrig als Mutter? Aber ich würde ihre Hoffnungen gerne guten Gewissens nähren können. Denn noch rede ich sozusagen ins Blaue hinein, mit bleischwerem Herzen. Es ist bislang fraglich, ob es jemals eine wirksame Behandlung auch für die Schwerkranken unter den ME-Patienten geben wird. Und es tun sich weitere Fragen auf: Werden meine Töchter durchhalten, bis eine solche Behandlung vielleicht tatsächlich eines Tages existiert? Werde ich die Pflege meiner beiden Töchter bis dahin schaffen? Werden wir als Familie die Belastung auf Dauer durchstehen können? Eine Belastung, die seit nunmehr schon sechseinhalb Jahren anhält und die bislang mit jedem weiteren Jahr exponentiell zugenommen hat?

ME-Patienten und ihre Angehörigen haben also lange Weihnachtswunschlisten. Die meisten ihrer Wünsche sind immaterieller Beschaffenheit. Sie stehen nicht auf den Listen ihrer Mitmenschen, weil Wünsche in der Regel nur für etwas formuliert werden, woran Mangel herrscht. Aber Gesunde nehmen all das, woran es ME-Kranken mangelt, für selbstverständlich: Gesundheit, Gesellschaft, Familie, Freunde, Arbeit, Rente, eine medizinische Versorgung, wenn man krank wird, und vieles mehr.


Viele ME-Kranke werden versuchen, das Weihnachtsfest zumindest für ein paar Stunden mit der Familie gemeinsam zu verbringen. Etliche werden an den Festtagen ganz allein bleiben. Einige, wie wir beispielsweise, werden das Weihnachtsfest ganz ausfallen lassen müssen. Ein Zusammensein wird nicht möglich sein und Geschenke würden meine Töchter nur heillos überfordern. Die Geburtstagsgeschenke meiner Älteren stapeln sich unausgepackt seit Ende Juni auf einem Stuhl in der Zimmerecke. Sie hatte keine Kraft, sich feiern zu lassen, geschweige denn ihren Geburtstag selbst feiern zu können. Kann sich jemand, der einen schwerkranken ME-Patienten nicht aus nächster Nähe erlebt hat, das überhaupt vorstellen? Dass ein Mensch so krank sein kann, dass ihn selbst ein einziges Geschenk bereits überanstrengt und noch kränker macht?

Heiligabend und die beiden Weihnachtstage werden sich bei uns also nicht von den 362 anderen Tagen des Jahres unterscheiden. Nur das uns ohnehin ständig begleitende Gefühl, vom Leben ausgeschlossen zu sein, im Ausnah-ME-zustand zu sein, wird an diesen Tagen noch stärker und schmerzhafter zu spüren sein als sonst.

Ich wünsche dennoch allen von Herzen ein frohes Fest!















Katharina Voss, Copyright 2015